Aktuell: Reformaufgaben für die Ukraine
1. Juli 2022Das Wichtigste in Kürze:
- Von der Leyen gibt Ukraine Reformaufgaben mit
- Viele Tote durch Raketenangriff nahe Odessa
- Heftige Gefechte um Großstadt Lyssytschansk im Donbass
- Russland droht mit Schließung von Botschaft in Bulgarien
- Kiew und Polen distanzieren sich von Melnyk-Äußerung
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den Beitrittskandidaten Ukraine zum verstärkten Kampf gegen Korruption aufgerufen. Durch bereits erlassene Reformen und die Errichtung von Institutionen habe die Ukraine "eine beeindruckende Anti-Korruptions-Maschinerie" geschaffen, sagte sie in einer per Video übertragenen Rede vor dem ukrainischen Parlament. "Aber jetzt brauchen diese Institutionen Handlungsmöglichkeiten und die richtigen Leute in den verantwortlichen Positionen", betonte die EU-Kommissionschefin.
Sie rief dazu auf, "so bald wie möglich" die neuen Chefs der auf Korruptionsbekämpfung spezialisierten Staatsanwaltschaft und des nationalen Büros für Korruptionsbekämpfung zu ernennen. Mit Blick auf die geplante Reform des Verfassungsgerichts sei es "notwendig", per Gesetz ein Verfahren zur Auswahl von Richtern festzulegen, fügte von der Leyen hinzu. Ein von der Ukraine erlassenes Gesetz, das den Einfluss von Oligarchen mindern soll, müsse auf "rechtlich einwandfreie Weise" umgesetzt werden. Die Kommissionspräsidenten mahnte außerdem die Verabschiedung eines Mediengesetzes an, das mit EU-Vorgaben im Einklang stehe.
"Harte Arbeit, Entschlossenheit und Einigkeit"
Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten der Ukraine ebenso wie Moldau vor einer Woche auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel den Status eines EU-Beitrittskandidaten verliehen. Diese Entscheidung ist allerdings nur der erste Schritt eines langwierigen Beitrittsprozesses. "Die nächsten Schritte liegen in Ihrer Reichweite, aber sie erfordern harte Arbeit, Entschlossenheit und vor allem Einigkeit", sagte von der Leyen vor den ukrainischen Abgeordneten. "Es wird ein langer Weg sein, aber Europa wird Ihnen bei jedem Schritt zur Seite stehen, egal wie lange es dauert - von diesen dunklen Tagen des Krieges bis zu dem Moment, in dem Sie die Schwelle unserer Europäischen Union überschreiten."
Viele Tote durch Raketenangriff nahe Odessa
Durch Beschuss mehrerer Gebäude in der Region Odessa im Süden der Ukraine sind nach jüngsten ukrainischen Angaben mindestens 21 Menschen getötet worden. Wie die regionalen Behörden mitteilten, gab es zahlreiche Verletzte. Unter ihnen seien auch mehrere Kinder. Die Rettungsarbeiten würden durch Feuer erschwert, hieß es.
Der Sprecher der Regionalverwaltung von Odessa, Serhij Bratschuk, erklärte, eine Rakete habe ein neunstöckiges Wohnhaus in der Gegend von Bilhorod-Dnistrowsky, rund 80 Kilometer südlich der Hafenstadt Odessa, schwer beschädigt. Das Geschoss sei von einem russischen Flugzeug über dem Schwarzen Meer abgefeuert worden. Weitere Raketen hätten andere Gebäude in der Nähe getroffen.
Die Bundesregierung hat den russischen Raketenangriff auf ein ziviles Wohngebäude und auf ein Freizeitzentrum in der Region Odessa mit vielen Toten auf das Schärfste verurteilt. "Dies führt uns erneut auf grausame Art und Weise vor, dass der russische Aggressor den Tod von Zivilisten bewusst in Kauf nimmt", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin. Das Vorgehen der russischen Seite, die hier erneut von Kollateralschäden spreche, sei menschenverachtend und zynisch. Auch die russische Bevölkerung müsse dieser Wahrheit endlich ins Auge sehen.
"Russen von allen Seiten"
Fortdauernder Beschuss wird aus der östlichen Großstadt Lyssytschansk gemeldet. Die russischen Truppen rückten aus mehreren Richtungen auf die Großstadt vor, berichtete Regionalgouverneur Serhij Hajdaj. "Man kann ganz einfach sagen, dass die Russen sehr zahlreich sind und von allen Seiten kommen. Es gibt eine unglaubliche Anzahl von Fahrzeugen und Artillerie", schilderte Hajdaj. Die Lage sei "extrem schwierig". Angaben pro-russischer Kämpfer, sie beherrschten bereits das halbe Stadtgebiet, wies der Gouverneur aber ausdrücklich zurück.
Lyssytschansk ist die letzte größere Stadt im Gebiet Luhansk unter ukrainischer Kontrolle. Zuletzt konnte sie nur noch über wenige Routen aus dem Westen mit Nachschub versorgt werden. Im benachbarten Donezker Gebiet habe es russische Vorstöße bei Slowjansk und Bachmut gegeben, die zurückgeschlagen werden konnten, teilte der ukrainische Generalstab mit. Die Meldungen aus dem Kriegsgebiet lassen sich kaum unabhängig überprüfen.
"Geschosse aus Sowjetzeiten" oft im Einsatz
Die Zahl der russischen Raketenangriffe hat sich nach Angaben des ukrainischen Militärs in den vergangenen zwei Wochen mehr als verdoppelt. Dabei setze das russische Militär in über der Hälfte der Fälle ungenaue Geschosse aus Sowjetzeiten ein, berichtete Brigadegeneral Oleksii Hromow. "Der Feind nimmt weiterhin Militäreinrichtungen, kritische Infrastruktur sowie Industrie und Transportnetzwerke ins Visier." Wegen der Ungenauigkeit der Angriffe "erleidet die Zivilbevölkerung signifikante Verluste". Hromow zufolge wurden in der zweiten Juni-Hälfte 202 Raketen auf die Ukraine abgefeuert, ein Anstieg um 120, verglichen mit den ersten zwei Wochen des Monats.
"Verändert die Situation im Schwarzen Meer"
Der russische Rückzug von der Schlangeninsel bringt die Ukraine nach Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj in eine bessere Position. "Die Schlangeninsel ist ein strategischer Punkt, und das verändert erheblich die Situation im Schwarzen Meer", sagte Selenskyj in seiner Videoansprache in der Nacht zum Freitag. Die Handlungsfreiheit des russischen Militärs werde dadurch deutlich eingeschränkt, auch wenn dies noch keine Sicherheit garantiere.
Von der Schlangeninsel aus können Teile der ukrainischen Küste und Schifffahrtswege kontrolliert werden. Mit dem Rückzug der Russen von der Insel müsse unter anderem das Gebiet um die Hafenstadt Odessa keine Landung russischer Einheiten mehr befürchten, teilte das ukrainische Militär mit.
Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte am Donnerstag erklärt, russische Truppen hätten die Schlangeninsel als Zeichen des guten Willens verlassen. Die ukrainische Militär entgegnete, eine Serie von Artillerie- und Luftangriffen habe die Besatzer vertrieben. Die Ukraine sieht das auch als Bestätigung, dass sie mit mehr modernen Waffen militärisch erfolgreich gegen russische Truppen sein kann.
Russland hatte die Schlangeninsel kurz nach dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar besetzt. Damit ist die Rückeroberung der Insel für die Führung in Kiew auch ein symbolischer Erfolg.
Russland droht mit Schließung von Botschaft in Bulgarien
Moskau hat mit der Stilllegung der russischen Botschaft in Bulgarien gedroht. Die russische Botschafterin in der bulgarischen Hauptstadt, Eleonora Mitrofanowa, sagte, sie werde die Regierung der Russischen Föderation "umgehend" bitten, die Vertretung in Sofia zu schließen. Dies werde unweigerlich eine Schließung der bulgarischen Vertretung in Moskau zur Folge haben. Mitrofanowa reagierte damit auf die Ankündigung Bulgariens, 70 russische Diplomaten auszuweisen.
Eine Aufforderung an das bulgarische Außenministerium, diese Ankündigung zurückzuziehen, sei leider ignoriert worden, hieß es in der Erklärung weiter. Eine mögliche Botschaftsschließung habe der bulgarische Regierungschef Kiril Petkow zu verantworten, erklärte Mitrofanowa. Petkow hatte am Dienstag erklärt, russische Diplomaten seien als "Personen identifiziert" worden, "die gegen unsere Interessen arbeiten". Das Außenministerium will nun den Vorschlag der Botschafterin prüfen.
Petkow warf derweil Mitrofanowa vor, "der bulgarischen Bevölkerung Angst einjagen" zu wollen. Diplomaten dürften dem bulgarischen Staat keine Ultimaten stellen. "Ich habe klar gesagt, dass die diplomatischen Beziehungen fortgesetzt werden sollten", sagte er vor Reportern. Mehrere europäische Staaten haben seit Beginn der Offensive Moskaus in der Ukraine Ende Februar russische Diplomaten des Landes verwiesen. Russland reagierte darauf seinerseits mit dem gleichen Schritt.
Bisher deutsche Rüstungsexporte für 562 Millionen Euro an Ukraine
Die Bundesregierung hat im ersten Halbjahr Genehmigungen für den Export von Rüstungsgütern in die Ukraine im Wert von 561,7 Millionen Euro erteilt. Wie das Bundeswirtschaftsministerium am Freitag mitteilte, war die Ukraine damit nach den Niederlanden das zweitgrößte Abnehmerland deutscher Rüstungsexporte. Insgesamt beliefen sich die erteilten Ausfuhrgenehmigungen auf 4,14 Milliarden Euro. Im Vorjahreszeitraum waren es nur 2,3 Milliarden Euro gewesen.
Die Bundesregierung hatte nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine schnell auch Waffenlieferungen zugesagt. Dabei handelte es sich zunächst um tragbare Waffen zur Abwehr von Panzern oder Flugzeugen. Erst rund zwei Monate nach Kriegsbeginn beschloss die Bundesregierung auch die Lieferung schwerer Waffen. In der Ukraine angekommen sind mittlerweile sieben Exemplare der Panzerhaubitze 2000.
Von allen Ausfuhrgenehmigungen im ersten Halbjahr entfielen 2,54 Milliarden Euro auf Kriegswaffen und 1,6 Milliarden Euro auf sonstige Rüstungsgüter. An erster Stelle der Empfängerländer standen die Niederlande mit 1,78 Milliarden Euro. Grund sei "ein großvolumiges und auf mehrere Jahre angelegtes Beschaffungsvorhaben". Nach den Niederlanden und der Ukraine folgten die USA als drittgrößter Empfänger mit 348,7 Millionen Euro.
Scholz rechnet nicht mit raschem Kriegsende
Bundeskanzler Olaf Scholz hält es für möglich, dass Russlands Präsident Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine noch sehr lange fortsetzen kann. Putin habe die Entscheidung, diesen Krieg zu führen, ein Jahr vor dessen Beginn oder noch früher getroffen, sagte der Kanzler in einem Interview des amerikanischen TV-Senders CBS: "Und so wird er in der Lage sein, den Krieg wirklich lange Zeit fortzusetzen", meinte Scholz.
Norwegen sagt Ukraine eine Milliarde Euro Hilfe zu
Norwegen will der Ukraine mit umgerechnet fast einer Milliarde Euro helfen. Die Zahlungen der Hilfsgelder sollen sich über einen Zeitraum von zwei Jahren erstrecken. Das teilte die Regierung anlässlich eines Besuches von Ministerpräsident Jonas Gahr Store in dem Kriegsland mit. Die zehn Milliarden norwegischen Kronen sollten in humanitäre Hilfe, den Wiederaufbau des Landes, in Waffen sowie die Unterstützung der Behörden fließen. "Wir stehen an der Seite des ukrainischen Volks", erklärte Store. "Wir unterstützen die Ukrainer in ihrem Kampf für die Freiheit. Sie kämpfen für ihr Land, aber auch für unsere demokratischen Werte." Store hatte die Hauptstadt Kiew sowie die durch den Krieg verwüstete Ortschaft Jahidne besucht. Danach beschrieb er Jahidne laut der norwegischen Nachrichtenagentur NTB als "einen Blick in die Hölle auf Erden".
Botschafter Melnyk hat seine "eigene Meinung"
Das ukrainische Außenministerium distanziert sich von Äußerungen des ukrainischen Botschafters in Deutschland, Andrij Melnyk. "Die Meinung, die (...) Andrij Melnyk in einem Interview mit einem deutschen Journalisten geäußert hat, ist seine eigene und spiegelt nicht die Position des ukrainischen Außenministeriums wider", hieß es aus Kiew.
In einem Videointerview mit dem Journalisten Tilo Jung hatte der Botschafter bestritten, dass es Beweise für den Massenmord an Juden durch Anhänger des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera (1909-1959) gibt. "Bandera war kein Massenmörder von Juden und Polen", sagte Melnyk. Das würde er auch immer wieder bestätigen. Bandera habe lediglich versucht, den Kampf zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion für eine ukrainische Unabhängigkeit auszunutzen, betonte Melnyk. Er wurde für seine Haltung in sozialen Netzwerken heftig kritisiert.
Auch Polen rügte inzwischen die Äußerungen Melnyks über Bandera. "So eine Auffassung und solche Worte sind absolut inakzeptabel", sagte Vize-Außenminister Marcin Przydacz der Internetplattform Wirtualna Polska. Bandera war ideologischer Führer des radikalen Flügels der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Nationalistische Partisanen aus dem Westen der Ukraine waren 1943 für ethnisch motivierte Vertreibungen verantwortlich, bei denen Zehntausende polnische Zivilisten ermordet wurden. Bandera floh nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland, wo er 1959 von einem Agenten des sowjetischen Geheimdienstes KGB ermordet wurde.
Kanada und USA dämpfen Europas Hoffnungen
Im Ringen um Alternativen zu russischem Erdgas hat Kanadas Umweltminister Steven Guilbeault die Möglichkeiten zum Export von Flüssiggas unter anderem nach Deutschland präzisiert. Die kanadische Ostküste verfüge gerade über so viel Gas, dass damit eine Anlage für die LNG-Ausfuhr versorgt werden könne, sagte Guilbeault. Der überwiegende Teil der kanadischen Gasproduktion befindet sich in den westlichen Provinzen Alberta und British Columbia. Neue Gaspipelines zu bauen sei nicht sehr realistisch, so der Minister.
Die für den Export von Flüssiggas aus den USA wichtige LNG-Großanlage des Terminalbetreibers Freeport in Texas bleibt nach einem Brand bis auf Weiteres stillgelegt. Die zuständige Aufsichtsbehörde der US-Regierung stellte fest, dass der Betrieb ohne weitere Korrekturmaßnahmen ein Risiko für die öffentliche Sicherheit darstelle. Die Anlage in Quintana hat laut Analysten eine besonders große Bedeutung für den Export von Flüssiggas nach Europa. Sie ist damit auch ein wichtiger Faktor im Bemühen, die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern.
Schlag gegen Oligarch Suleiman Kerimow
Die USA haben das Milliarden-Vermögen eines russischen Oligarchen eingefroren. US-Ermittler hätten das im Bundesstaat Delaware ansässige Unternehmen Heritage Trust dem russischen Milliardär Suleiman Kerimow zugeordnet und beschlagnahmt, erklärte das Finanzministerium in Washington.
Kerimow steht bereits seit 2018 wegen Geldwäschevorwürfen und seiner Verbindungen zur russischen Regierung auf US-Sanktionslisten. Er stammt aus der russischen Republik Dagestan im Kaukasus und stieg nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einem der reichsten Menschen der Welt auf. Seine Familie kontrolliert unter anderem den Goldproduzenten Polyus.
wa/fw/jj/bri/sti/kle (dpa, afp, rtr)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.