Die NATO und der neue Eiserne Vorhang
30. Juni 2022"Wir leben in einer gefährlichen Welt", fasste NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Sicherheitslage nach dem zweitägigen Gipfel in Madrid zusammen. Er nennt den Beschluss über die massive Verstärkung von einsatzbereiten Bündnistruppen bis zum Sommer nächsten Jahres die richtige Antwort. Man sei bereit, alle Mitgliedstaaten zu beschützen, auch Finnland und Schweden während des Aufnahmeprozesses.
Beide Länder sollen Anfang nächster Woche nach jahrzehntelanger Neutralität formell als neue Mitglieder in die NATO eingeladen werden. Und für alle an der Ostgrenze der Allianz, die sich Sorgen machen - so wie die baltischen Länder - bekräftigte US-Präsident Joe Biden einmal mehr das Versprechen: "Wir werden jeden Zentimeter NATO-Gebiet verteidigen".
Doktrin des kalten Krieges
"Durch seine aggressive Politik stellt Russland wieder eine Bedrohung für Europa, für die Allianz dar", bestätigte auch Bundeskanzler Olaf Scholz. Russlands Überfall habe die internationale Friedensordnung zertrümmert und die weltpolitische Lage verändert. Die NATO ziehe aus dieser Situation die richtigen Schlüsse. Nach über einem Jahrzehnt bezeichne sie Russland in ihrem strategischen Konzept wieder als ernsthafteste Bedrohung der gemeinsamen Sicherheit.
Daraus folgt, so der Bundeskanzler, dass man unmittelbar die Ostflanke der Nato sichern müsse, wozu Deutschland mit 3000 Soldaten für die Stationierung in Litauen beitragen werde.
Scholz kündigte außerdem die Bereitstellung einer Division von 15.000 Mann mit rund 60 Flugzeugen und 20 Schiffen an, die dauerhaft für NATO-Einsätze vorgehalten werden sollen. In Rostock will er ein maritimes Regionalkommando aufbauen, um bei der Sicherung der Ostsee mitzuhelfen. Schon jetzt habe die Bundeswehr die Luftraumüberwachung an den Ostgrenzen der NATO verstärkt.
"Ziemlich lächerlich" nannte der deutsche Bundeskanzler den Vorwurf von Wladimir Putin, die NATO zeige in Madrid "imperialistische Ambitionen". Putin selbst sei es, der "Imperialismus zum Ziel seiner Politik gemacht hat" und behaupte, dass Nachbarländer zu Russland gehörten.
Auf die Frage nach einem möglichen Ende des Krieges zeigte sich Scholz so ratlos wie alle westlichen Regierungschefs: "Niemand steckt in Putins Kopf" oder kenne seine Berater. Er wolle Putin aber davon überzeugen, dass "es nicht klappt mit der Ukraine, dass er aufhören soll".
Waffen für die Ukraine, "so lange es dauert"
"Die Welt hat sich sehr verändert und die NATO verändert sich mit ihr", erklärte US-Präsident Joe Biden. Und er bekräftigte auf Nachfrage von Journalisten, ob die Alliierten tatsächlich der Ukraine bis zum Ende bestehen wollten: "Wir werden sie unterstützen, so lange es dauert. Schaut auf die bisherige Wirkung in Russland", die Wirtschaft sei um 15 Jahre zurückgefallen. "Sie können ihre Schulden nicht mehr bedienen," so Biden, "sie bezahlen einen hohen Preis. Wir bleiben an der Seite der Ukraine".
Biden kündigte darüber hinaus die Fortsetzung der umfangreichen US- Waffenlieferungen an die Ukraine an: Er werde in den nächsten Tagen Flugabwehrsysteme, Artillerie, Munition für die gelieferten Mehrfachraketenwerfer Himars (High Mobility Artillery Rocket System) und weitere Ausrüstung im Wert von 800 Millionen Dollar schicken.
Die USA bleiben der größte Lieferant, aber auch Deutschland und die Niederlande, Norwegen, Großbritannien und sogar Frankreich kündigten weitere Lieferungen an die Ukraine an. Präsident Emmanuel Macron sagte, zwölf Caesar Artilleriegeschütze seien schon vor Ort, sechs weitere würden folgen. Und Gastgeberland Spanien erwägt die bislang umstrittene Lieferung von Leopard Panzern in die Ukraine.
Lawrow: "Neuer Eiserner Vorhang"
Noch während der Pressekonferenz von Joe Biden in Madrid reagierte der russische Außenminister Sergei Lawrow auf die Beschlüsse des NATO-Gipfels. Er sehe einen neuen Eisernen Vorhang zwischen dem Westen und Russland fallen und rate der NATO "vorsichtig zu sein, und nichts einzuklemmen". Europa und Washington seien nicht daran interessiert, russische Interessen zu verstehen, erklärte Lawrow.
Zuvor hatte Präsident Putin zum anstehenden NATO-Beitritt von Finnland und Schweden erklärt: "Wenn Finnland und Schweden beitreten wollen, können sie beitreten". Wenn dort aber militärische Einheiten und Infrastruktur aufgestellt würden, werde man die gleiche Bedrohung für diese Gebiete schaffen, wie sie von dort für Russland ausgingen.
Auch wegen des anstehenden Beitritts von Finnland und Schweden nannten viele Teilnehmer in Madrid den Gipfel ein "historisches Treffen". Am ersten Abend war es zunächst gelungen, die Einwände des türkischen Präsident Recep Erdogan auszuräumen. Er schloss eine Vereinbarung mit Stockholm und Helsinki über den Umgang mit dortigen Exilkurden.
US-Kampfjets für Ankara
Der Kompromiss war zustande gekommen, weil die USA der Türkei gleichzeitig einen Anreiz in Gestalt von F16 Kampfjets versprachen, die Erdogan schon seit längerem für seine Armee will. Zwar bestreitet die amerikanische Seite den Zusammenhang, aber die Gleichzeitigkeit der Ereignisse deutet auf das Gegenteil. Denn Präsident Biden stellte in Madrid bei einem bilateralen Treffen mit Erdogan die Lieferung der Jets in Aussicht, während das Abkommen zwischen den Beitrittsländern und der Türkei unterschrieben wurde.
Bei der Pressekonferenz nach Ende des Gipfels durchkreuzte Erdogan jedoch die Hoffnung auf eine problemlose Aufnahme für die beiden Kandidaten. Schweden und Finnland müssten erst ihre Versprechen erfüllen und Gesetzesänderungen auf den Weg bringen, forderte er.
Erdogan behauptete auch, Schweden habe versprochen, 73 Personen auszuliefern, die er als "Terroristen" einstuft. Allerdings steht nichts davon in der Vereinbarung zwischen den drei Ländern. Am Mittwoch hatte ein Regierungsvertreter zunächst die Auslieferung von 33 Kurden an die Türkei verlangt. Der Präsident scheint inzwischen die Zahl erhöht zu haben.
"Das wichtigste ist, dass die Versprechen eingehalten werden. In nächster Zeit werden wir beobachten, wieweit die Vereinbarung umgesetzt wird und uns entsprechend verhalten", so Erdogan. Und schließlich fügte er noch eine offene Drohung an: "Schweden und Finnland sollten ihre Pflichten erfüllen [...] Aber wenn sie das nicht tun, steht es außer Frage, dass ich die Ratifizierung (des Beitritts) an das Parlament schicke".
Der Konflikt scheint also noch nicht endgültig gelöst. Weder hatte Schweden je die Auslieferung von Kurden auf türkischen Listen zugesagt, noch ist die Regierung in Stockholm dazu rechtlich imstande. Offen ist, ob Erdogan in Madrid nur eine innenpolitische Show veranstaltete oder tatsächlich den Beitritt von Finnland und Schweden blockieren will.
Dann hilft nur noch der Hinweis von Joe Biden auf die anstehende Zustimmung im amerikanischen Kongress zur Lieferung der F16 Kampfjets an die Türkei. Diesen Streit zwischen der NATO und Ankara kann letztlich wohl nur der große Bruder in Washington aus der Welt schaffen.