1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Türkei: Das Ende des Booms

Thomas Seibert (Istanbul)22. Dezember 2014

Schlechte Nachrichten haben die in den letzten Jahren üblichen Jubel-Berichte über die türkische Wirtschaft abgelöst. Experten halten der Regierung vor, Reformen versäumt zu haben. Aus Istanbul Thomas Seibert.

https://p.dw.com/p/1E6gf
Türkische Nationalflagge in Istanbul
Bild: picture alliance/JOKER

Über ein Wachstum von 1,7 Prozent im dritten Quartal und insgesamt 2,8 Prozent in den ersten neun Monaten würden sich europäische Staaten freuen. Doch in der Türkei wurden die Zahlen, die kürzlich vom Statistikamt in Ankara veröffentlicht wurden, mit Enttäuschung aufgenommen, denn sie lagen weit unter den Erwartungen der Märkte. Das Land, das im vergangenen Jahrzehnt mit Wachstumsraten von bis zu neun Prozent im Jahr für Furore sorgte, muss heute deutlich kleinere Brötchen backen. Das für dieses Jahr anvisierte Wachstumsziel von 3,3 Prozent ist in Gefahr; ursprünglich hatte die Regierung sogar auf vier Prozent gehofft.

Nicht nur beim Wachstum werden die Türken mit unangenehmen Nachrichten konfrontiert. Die Arbeitslosigkeit erreichte mit einem saisonbereinigten Wert von 10,7 Prozent im September die höchste Marke seit vier Jahren. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent. Die türkischen Verbraucher haben ganz offenbar nicht mehr so viel Geld zur Verfügung wie in früheren Zeiten: Der Autoverkauf brach in den ersten neun Monaten des Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 19 Prozent ein.

Hausgemachte Probleme

Zum Teil hängen die Probleme mit dem internationalen Umfeld zusammen. So wirkt sich der Abbau der Anleihe-Aufkäufe durch die US-Zentralbank wie in anderen Schwellenländern auch in der Türkei aus: Investoren ziehen ihr Geld aus Istanbul ab und legen es in der Hoffnung auf steigende Zinsen in den USA an. Der Boom der vergangenen Jahre wurde zu wichtigen Teilen von Anlegern aus dem Ausland getragen - wenn diese sich aus der Türkei zurückziehen, kann das verheerende Folgen haben.

Nach Ansicht von Experten ist ein Teil der Schwierigkeiten der Türkei aber auch hausgemacht. Insbesondere bei Maschinen und Ausrüstung seien die Investitionen türkischer Unternehmen stark gesunken, sagte Hanife Cetin von der Ankaraner Denkfabrik Türksam der DW. Dabei brauche das Land vor allem eine starke Produktionsbasis und eine stärkere Hinwendung zu Forschung und Entwicklung.

IWF mahnt strukturelle Reformen an

Der Internationale Währungsfonds (IWF) rief die Türkei erst kürzlich zu strukturellen Reformen auf. Ankara müsse die Abhängigkeit von ausländischen Anlegern reduzieren. In der Phase nach 2008, als das Geld ausländischer Investoren die türkische Wirtschaft beflügelten, sei die Gelegenheit für Reformen verpasst worden, schrieb der Kolumnist Ugur Gürses in der Internetzeitung "Radikal". Gürses betonte, auch die politischen Turbulenzen und der Korruptionsverdacht gegen die Regierung wirkten sich negativ auf die Wirtschaft aus. Nach der jüngsten Festnahmewelle gegen Journalisten am vergangenen Wochenende sackte der Kurs der türkischen Lira ab.

Auf lange Sicht könne bei Investoren die Skepsis hinsichtlich der Türkei dominieren, warnte Türksam-Expertin Cetin. Trotz kurzfristiger Wachstumsschübe - etwa wegen der gefallenen Ölpreise oder wegen höhrerer Staatsausgaben vor den Parlamentswahlen im kommenden Jahr - müsse auf Dauer mit hoher Inflation und Arbeitslosigkeit sowie einer "wirtschaftlichen Zerbrechlichkeit" gerechnet werden.

Bildung ist der Schlüssel

Gebraucht werde ein neues Wachstumsmodell für die Türkei, meint Emre Deliveli, Wirtschaftskolumnist bei der Zeitung "Hürriyet Daily News". Das derzeitige Modell, das sich auf die Inlandsnachfrage verlasse, müsse zugunsten einer am Export von Hochtechnologie orientierten Politik aufgegeben werden, sagte Deliveli der DW. Bisher habe die Türkei noch nicht den Sprung von der Herstellung von Gütern wie Autos zur Hightech-Produktion geschafft. Voraussetzung dafür seien Reformen im Bildungssystem, die das Land zum Beispiel bei Forschung und Entwicklung nach vorne bringen könnten.

Dass diese Reformen in absehbarer Zeit angegangen werden, ist aber unsicher. Die Regierung verspreche zwar Veränderungen, aber das habe sie vor einigen Jahren auch schon getan, ohne dass viel geschehen sei, sagte Deliveli. Vor den Parlamentswahlen Mitte kommenden Jahres sei kaum mit einem Durchbruch in diesem Bereich zu rechnen.