Die Pipeline ist tot, es lebe die Pipeline!
2. Dezember 2014Der russische Präsident Wladimir Putin kann seinen Landsleuten in den staatseigenen Medien wieder einmal einen Sieg präsentieren: Mit der plötzlichen Absage, die Erdgaspipeline South Stream zu bauen, hat er es den undankbaren Europäern wieder einmal gezeigt! Sollen die jetzt sehen, wo sie ohne russisches Gas bleiben, Russland werde seine Energielieferungen auf andere Regionen der Welt umorientieren. So etwa hat der starke Mann aus dem Kreml seine Entscheidung der heimischen Öffentlichkeit verkauft. Es war seine persönliche Entscheidung - das hat der russische Energieminister Alexander Nowak unmissverständlich klargestellt.
Umgehung der Ukraine als strategisches Ziel
In der Realität sieht das Aus für die außerordentlich teure Pipeline natürlich anders aus als in der simplen russischen Propagandawelt. Es ist sicherlich kein Sieg für Putin - aber auch keine Niederlage, wie manche europäische Kommentatoren behaupten. Im Grunde genommen hat der Kremlchef nur flexibel umdisponiert, behält aber sowohl seine strategischen Ziele als auch die wichtigsten Kunden für sein Gas, die Europäer, fest im Blick.
Das erklärte Ziel der Verlegung der South Stream vom russischen Festland über das Schwarze Meer nach Bulgarien und dann weiter nach Österreich bestand darin, einen Transportweg für Gaslieferungen aus Russland in die EU unter Umgehung der Ukraine zu bekommen. Das konnte man unter dem rein marktwirtschaftlichen Blickwinkel der Minimierung von Transit-Risiken sehen, wie dies die ausländischen Partner des Projektes - etwa die deutsche BASF-Tochter Wintershall - taten.
Für den Kreml dagegen war wohl die Geopolitik wichtiger. Die Fertigstellung dieser Pipeline hätte die Abhängigkeit der widerspenstigen Ukraine von direkten russischen Energielieferungen enorm erhöht. Denn solange Gas durch ukrainisches Gebiet nach Europa fließt, kann Kiew im Falle einer Blockade seitens Moskau immer noch die Transitleitungen anzapfen.
Die Türkei als Transitland für russisches Gas
Angesichts des kriegsähnlichen Zustandes, in dem sich Russland und die Ukraine heute befinden, hat das strategische Ziel der South Stream für Putin eine noch viel größere Bedeutung erlangt. Deshalb handelt er nach der Devise: Die Pipeline ist tot, es lebe die Pipeline! Denn gleichzeitig mit der Absage an dieses Projekt kam aus Ankara, wohin der russische Präsident zu einem Staatsbesuch gereist war, die Ankündigung eines neuen Bauvorhabens: Nun soll eine Leitung mit genau der selben Kapazität - 63 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr - durch das Schwarze Meer in die Türkei verlegt werden.
Diesem Umstand schenken viele Kommentatoren wenig Aufmerksamkeit, weil sie allein auf den spektakulären Stop der South Stream fixiert sind. Dabei hat der Kreml-Herr gerade ein neues Spiel begonnen: Zum Brückenkopf für russische Gasexporte in die EU soll nun die Türkei ausgebaut werden. Denn aus der neuen Pipeline, die wegen des wesentlich kürzeren Unterwasserteils eindeutig kostengünstiger wird, wollen die Türken nur etwa 14 Milliarden Kubikmeter für ihren eigenen Bedarf importieren. Das ist genau jener Umfang, den die staatliche Öl- und Gasfirma Botas zur Zeit aus Russland über die Ukraine und den Balkan einführt.
Bulgarien nicht unbedingt der große Verlierer
Der Rest, also fast 50 Milliarden, soll über türkisches Gebiet an die Grenze zu Griechenland gepumpt werden, erläuterte nur wenige Minuten nach der spektakulären Ankündigung Putins der Gazprom-Chef Alexej Miller. Von wegen andere Absatzmärkte! Der Adressat der neuen russischen Pipeline ist nach wie vor die EU. Nur dass dieses Mal die Rolle des Transitlandes nicht die Ukraine, sondern die Türkei übernehmen soll.
Für die europäischen Verbraucher ändert sich somit außer dem Namen der Pipeline herzlich wenig. Die 50 Milliarden Kubikmeter, was mehr als ein Drittel aller russischen Gaslieferungen in die EU ist, will Moskau den Europäern, die gute Devisen dafür bezahlen, nicht vorenthalten. Und auch Bulgarien, das Putin als den großen Verlierer des South-Stream-Stops dargestellt hat, wird seine Transitgebühren vielleicht doch noch kassieren können.
Dafür genügt ein Blick auf die Landkarte! Im Westen grenzt die Türkei an Griechenland und Bulgarien. Wohin sollen denn die riesigen Mengen russischen Gases gehen, wenn sie eines Tages mal hier ankommen? Nach Griechenland? Das benötigt so viele Milliarden Kubikmeter gar nicht, zumal die Griechen in einigen Jahren die Pipeline TAP bekommen, über die Gas aus Aserbaidschan nach Italien gepumpt werden wird.
Die einzige realistische Option ist somit der Weg nach Nord-Westen über Bulgarien bis hin zum europäischen Gas-Hub Baumgarten in Österreich. Das wäre in etwa dieselbe Strecke, die für South Stream angedacht war, nur dass der Einstiegspunkt ein paar Hundert Kilometer südlicher wäre. Aber auch die verkürzte Strecke Nabucco-West, die seinerzeit bei den Europäern im Gespräch war, käme hier in Frage.
Ein unausgegorener Plan mit Spielraum für Verhandlungen
Im besten Falle könnte sich die Absage an die South Stream daher als ein für den Kreml gesichtswahrendes Einverständnis entpuppen, die strengen europäischen Regeln für Energienetze doch noch zu befolgen. Denn die Worte des Gazprom-Chefs lassen sich auch so interpretieren: Russland liefert das Gas an der EU-Grenze ab, und von dort sollen doch die Europäer es nach ihren eigenen Vorstellungen und Gesetzen weiterleiten. Damit hätte die Geschichte fast schon ein Happy-End. Zumindest gäbe es keine eindeutigen Verlierer.
Einen eindeutigen Gewinner gibt es auf jeden Fall, und das ist die Türkei. Einer ihrer ambitionierten wirtschaftspolitischen Pläne besteht darin, zu einer Drehscheibe für Gas- und generell Energielieferungen aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa zu werden. Die Zubringer-Pipeline zur TAP ist ein vielversprechender Anfang. Die neue, viel größere russische Pipeline würde auf türkischen Boden eine Infrastruktur entstehen lassen, die einfach prädestiniert dafür wäre, in Zukunft Gas auch aus dem Irak und dem Iran nach Europa zu transportieren. Für Russland wären das neue starke Konkurrenten, für die Europäer dagegen eine Möglichkeit, ihren Energiebezug weiter zu diversifizieren.