Der Hesse, der Merkel gefährden könnte
26. Oktober 2018"Nein, nein, das ist kein Foto von meinem jüngeren Bruder", scherzt Tarek Al-Wazir vor der Parteizentrale der Grünen in Berlin. Er steht vor einem riesigen Wahlplakat mit seinem geschönten Konterfei darauf, darunter der Slogan "Tarek statt Groko". "Wir warnen die Wähler davor, die Volksparteien zu wählen", sagt Al-Wazir. Es ist eine der wichtigsten Botschaften der Grünen in diesem Wahlkampf für den 28. Oktober: Wer vermeiden will, dass es in Hessen so wird wie auf Bundesebene, der muss Grün wählen - so jedenfalls die Parteilogik.
Umfragen zufolge könnte es für die Grünen in Hessen zu einem Rekordergebnis reichen. 20 bis 22 Prozent der Stimmen prognostizierten die Meinungsforscher zuletzt. Doch davon lässt sich der 47-jährige Al-Wazir nicht blenden. "Ich mache das schon lange", sagt er und macht eine wegwerfende Handbewegung: "Lange genug, um zu wissen, dass Tendenzen keine Stimmen bedeuten. Deshalb werden wir bis zum Schluss weiterkämpfen."
Wichtige Wahl - auch für die Bundespolitik
Je nachdem wie die Hessen an diesem Sonntag wählen, könnte Al-Wazir den amtierenden Ministerpräsidenten und engen Vertrauen von Kanzlerin Angela Merkel, Volker Bouffier (CDU), ersetzen. Die Konservativen stecken im Umfragetief, eine Fortsetzung der schwarz-grünen Koalition hätte nach jüngsten Umfragen keine Mehrheit. Auch der SPD drohen herbe Verluste, die Sozialdemokraten könnten hinter den Grünen landen - dann könnte Al-Wazir vom stellvertretenden zum Ministerpräsidenten aufsteigen. Für Merkels CDU und die Glaubwürdigkeit der ohnehin angeschlagenen großen Koalition wäre das ein herber Schlag.
"Tarek ist einer der intelligentesten Politiker meiner Generation bei den Grünen", sagt Robert Habeck, Co-Vorsitzender der Grünen, der DW: "Ich glaube, Tarek ist zu allem fähig."
Tarek Al-Wazir, 1971 als Sohn einer deutschen Mutter und eines jemenitischen Vaters geboren, wurde von klein auf politisiert, seine Mutter nahm ihn zu Demonstrationen mit. Al-Wazir wuchs in Offenbach auf, mit 14 zog er für zwei Jahre in die jemenitische Hauptstadt Sanaa, zu seinem Vater.
Al-Wazirs Migrationshintergrund spielt im Wahlkampf keine Rolle
Bei der Frage eines deutschen Journalisten nach seiner "Migrationserfahrung" in Deutschland wird klar, dass seine Familiengeschichte im Wahlkampf keine Rolle spielt. Al-Wazir schürzt zunächst die Lippen, antwortet nicht sofort. Er behält stets die Kontrolle über die Situation, egal, ob er auf einem Podium sitzt oder bei Cappuccino und Kuchen mit Wählern über die Milchpreise plaudert. Sein Sarkasmus verhindert jede Verwechslung mit Arroganz. "Ich werde Ihnen von meiner 'Migrationserfahrung' erzählen", sagt er schließlich in der Parteizentrale der Grünen, in einem Raum voller Journalisten.
"Als ich 14 war, ging ich in den Jemen. Zwei Jahre lang. Ich kannte den Ort nicht. Ich konnte die Sprache nicht sprechen. Das ist meine Migrationserfahrung. Ja, nach deutschen Gesichtspunkten habe ich einen Migrationshintergrund. Das heißt, dass mindestens ein Elternteil von mir nach 1955 aus einem anderen Land gekommen ist. Aber so geht es auch David McAllister und Katarina Barley." McAllister (CDU), früherer niedersächsischer Ministerpräsident, und die amtierende Justizministerin Katarina Barley (SPD) haben beide ein britisches Elternteil.
Symbol für Offenbach
Für den Erstwähler Bruno Sanzenbacher ist Al-Wazirs Familiengeschichte trotzdem ein Grund, wieso sich der 18-Jährige für Politik begeistert. "Al-Wazir spiegelt das, was es heißt, aus Offenbach zu kommen, besser als jeder andere hier wieder, sagt Sanzenbacher der DW: "Er steht als Symbol für Offenbach, weil er zeigt, dass es jeder schaffen kann - auch wenn er nicht 'Müller' mit Nachnamen heißt."
1989, noch vor dem Abitur und dem anschließenden Studium der Politikwissenschaften in Frankfurt, wurde Al-Wazir Mitglied der Grünen. Kurz darauf wurde er Vorsitzender der Grünen-Jugendorganisation. 1995 wurde Al-Wazir zum ersten Mal ins hessische Parlament gewählt. Und dort ist er geblieben, wo er sich meist aus bundespolitischen Debatten heraushält und sich auf die lokale Politik fokussiert. "Er ist sehr nah bei den Wählern, sehr bodenständig. Das macht ihn so sympathisch", sagt ein Bürger aus Offenbach.
Bei der Wahlkampfveranstaltung "Kaffee mit Tarek und Robert" bestätigt sich Al-Wazirs Status als Hessens beliebtester Politiker. Zahlreiche Menschen sammeln sich auf dem Bürgersteig vor dem überfüllten Café. Drinnen warteten die Wähler darauf, dass Al-Wazir und Habeck ihre Anliegen ansprechen: Bildung, Verkehr, bezahlbarer Wohnraum, Milchpreise. Nicht ein einziges Mal wird das Thema angesprochen, das die deutsche Politik in den vergangenen drei Jahren dominiert hat: Migration.
Al-Wazir: "Die Menschen wissen, wofür wir stehen"
Genau diese Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen und die Tatsache, nicht in Personaldebatten gefangen zu sein, habe zur starken Position der Grünen im Vorfeld der Hessenwahl geführt, sagt Al-Wazir der DW: "Die Grünen profitieren sicherlich von der Tatsache, dass CDU/CSU und SPD als große Koalition kein gutes Bild abgeben. Aber den Grünen geht es nicht nur wegen der Schwäche der anderen gut. Die Menschen wissen, wofür wir stehen und dass wir auch Verantwortung für den Inhalt unseres Programmes übernehmen."
Tatsächlich geht es den Grünen nach einer fünfjährigen Koalition mit der CDU besser, als die meisten erwartet hätten. Dabei war die Verbindung mit den Konservativen keine einfache Angelegenheit, vor allem nicht nach dem Wahlkampf im Jahr 2008. "Links-Block verhindern. Yspilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen" - stand damals auf CDU-Wahlplakaten geschrieben.
Schmerzhafte Erinnerungen
Doch die schwarz-grüne Koalition hat es in den vergangenen fünf Jahren geschafft, den Skeptikern das Gegenteil zu beweisen - zweifellos zur Freude von Bundeskanzlerin Merkel, die sich über eine solche Koalition auf Bundesebene freuen würde. Und der amtierende hessische Ministerpräsident Bouffier hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er die aktuelle Koalition in Hessen gern fortsetzen würde.
Aber Al-Wazir weigert sich zu spekulieren. Die schmerzhaften Erinnerungen an die gescheiterten Koalitionsgespräche mit SPD und Linkspartei 2008 im Hinterkopf, hat Al-Wazir sich dazu entschlossen, dass die Grünen im Wahlkampf ihren eigenen Weg gehen.
"Zuerst brauchen wir ein Wahlergebnis. Dann können wir schauen, was rechnerisch funktionieren könnte, und dann, was in der Politik funktionieren würde", sagt er in Berlin: "Es gibt keinen Koalitionswahlkampf, nur Parteiwahlkampf."