SPD: letzte Hoffnung Hessen
23. Oktober 2018Der Tag beginnt nicht gut für den Wahlkampfbus von Thorsten Schäfer-Gümbel, dem Spitzenkandidaten der SPD in Hessen. Das purpurfarbene 10-Meter-Gefährt hat sich im Morgengrauen verfahren und steckt nun fest zwischen einer Bahnschranke und den davor wartenden Autos. Der Fahrer will wenden, doch es geht weder vorwärts noch zurück.
Genau wie in der deutschen Sozialdemokratie, könnte man behaupten. Die SPD scheint blockiert. Sie schafft es nicht, glaubwürdig zurückzufinden zu ihrem Kernthema, der sozialen Gerechtigkeit. Sie schafft es nicht, neue Themen zu besetzen. Und sie schafft nicht den Absprung aus der großen Koalition in Berlin - obwohl sie seit dem Bündnis mit Angela Merkels CDU und der CSU immer weiter an Beliebtheit im Volk verliert.
Entspannt in die letzte Woche
Schäfer-Gümbel, der Hessen-Mann der SPD, aber macht unbeirrt Wahlkampf. Der 49-Jährige will Ministerpräsident werden in dem Bundesland, das von der Finanzmetropole Frankfurt geprägt ist. "Tiefenentspannt” lautet sein Mantra. Wenn man zuschaut, wie Schäfer-Gümbel Berufspendlern am Bahnhof auf dem Weg in die City einen Kaffee und ein Croissant in die Hand drückt, nachdem sein Wahlkampfteam das morgendliche Ziel im Städtchen Dreieich südlich von Frankfurt schließlich erreicht hat, dann glaubt man ihm, dass er diesen Zustand erreicht hat. Er drängt sich den Menschen, die in dunklen Anzügen und Kostümen Richtung Büro eilen, nicht auf. Er wartet, bis jemand Interesse signalisiert.
So wie Jens Tauber. Der verlangsamt den Schritt, lässt sich von Schäfer-Gümbel an den Wahltermin am 28.10. erinnern, steckt einen Zettel mit Wahlwerbung ins Jackett. Seine Wahlentscheidung sei noch nicht gefallen, sagt er, bevor er in den Zug steigt. Er könne sich aber vorstellen, SPD zu wählen. "Man muss ja nicht immer nur den Gewinnern hinterherlaufen."
Merkel in der Zwickmühle
Die Parteienlandschaft in Deutschland verändert sich so rasant wie noch nie seit der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949. Die SPD ist größte Verliererin dieser Umwälzung. In den Umfragen kommt die ehemalige Volkspartei bundesweit auf nur noch rund 15 Prozent. Ein Desaster für die Genossen, die schon zur Kaiserzeit für Arbeiterrechte kämpften, im Lauf der Geschichte fünf Reichskanzler und drei Bundeskanzler stellten. Mit Schäfer-Gümbel hoffen sie nun auf einen SPD-Ministerpräsidenten in Hessen nach fast 20 Jahren CDU-geführter Regierung. Zur Zeit liegt er dort etwa gleichauf mit den Grünen bei gut 20 Prozent. Amtsinhaber Volker Bouffier von der CDU kommt aktuell auf rund 26 Prozent.
Legt Schäfer-Gümbel noch etwas zu, dann könnte er als Chef einer Koalition aus SPD, Grünen und Linken oder Liberalen regieren. Nach zwei erfolglosen Versuchen Schäfer-Gümbels hätte die SPD endlich wieder ein Erfolgserlebnis. Gleichzeitig könnte dies das Ende der Merkel-Kanzlerschaft bedeuten. Verliert die CDU Hessen, dann wagen die Merkel-Gegner vielleicht den Putsch und wählen ihre Parteivorsitzende ab. Rutscht die SPD in Hessen jedoch noch weiter nach unten, wird gar von den Grünen rund um Tarek Al-Wazir überflügelt, dann könnten die Genossen in Berlin die Reißleine ziehen und die große Koalition in Berlin aufkündigen. Auch das könnte Merkels politisches Ende bedeuten. Und Andrea Nahles müsste wohl den SPD-Vorsitz aufgeben.
Erbsensuppe und Mietenstopp
Von einer Schicksalswahl will der hessische SPD-Kandidat trotzdem nichts wissen. "Von solchen Übertreibungen halte ich grundsätzlich nichts", sagt Schäfer-Gümbel der DW. Auch wenn er plötzlich Interviewanfragen von der "Washington Post" und anderen ausländischen Medien erhält: Er versuche, sich im Wahlkampf auf das zu konzentrieren, was den Hessen am Herzen liege. "Das ist vor allem das Thema Wohnen, die soziale Frage unserer Zeit", so Schäfer-Gümbel. Er fordert einen "Mietenstopp" - fünf Jahre lang sollen die Mieten nur noch so stark steigen dürfen wie die Inflation, also etwa zwei Prozent im Jahr.
Mit dieser Idee will Schäfer-Gümbel heute die Menschen im Ballungsraum rund um Frankfurt überzeugen. Offenbach und Mülheim am Main stehen als nächste Stationen auf dem Fahrplan seines Wahlkampfbusses. Und der steht gerade noch im Halteverbot. Ein Polizist droht mit Strafzettel. Schnell setzt sich das Team Schäfer-Gümbel in Bewegung. Am Aliceplatz in der Fußgängerzone von Offenbach warten bereits die Genossen Wahlkampfhelfer auf ihren Spitzenkandidaten. In 50-Liter-Töpfen stehen Erbsensuppe und Gulasch bereit, rote Luftballons wiegen im Wind zwischen Wohnblocks und einigen wenigen Altbauten, die den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs überlebt haben.
Arbeiterpartei ohne Arbeiter
Thorsten Schäfer-Gümbel und seine Frau Annette haben sich Schürzen umgebunden und schöpfen Suppe. "Mit ein bisschen Grünzeug, nur nicht zu viel davon", scherzt Schäfer-Gümbel und streut Petersilie auf die Plastikteller. Zunächst greifen die angereisten Journalisten und einige Obdachlose zu, dann trauen sich immer mehr Passanten heran, diskutieren mit Schäfer-Gümbel über steigende Mieten, fehlende Lehrer, schlechte Busverbindungen. Selbst auf Detailfragen zum Baurecht und der Dachbegrünung lässt sich Schäfer-Gümbel ein.
Jahrzehntelang waren Städte wie Offenbach fest in der Hand der SPD. Die zahlreichen Arbeiter in Metall-, Chemie- und Lederwarenindustrie machten ihr Kreuz bei den Genossen. Doch das ist 40 Jahre her. Heute hat sich Offenbach als Dienstleistungsstandort neu erfunden, während die SPD im Strukturwandel feststeckt. Die meisten Passanten, die es nicht zum Suppenstand zieht, lassen kein gutes Haar an der Partei.
Aufrecht im Gegenwind
"Das ist ein müder Haufen, denen fehlt jedes Funkeln, denen fehlen neue Gedanken", sagt Wolfgang Meller. Er war mal überzeugter SPD-Wähler. Der Informatiker im Ruhestand hat sich jedoch von den Genossen abgewendet, so wie mehr als zehn Millionen wahlberechtigte Deutsche in den vergangenen 20 Jahren. Er vermisse Politiker mit Charisma, wie es einst der SPD-Kanzler Willy Brandt ausgestrahlt habe, sagt er. Zu Schäfer-Gümbel würde ihm einfach nichts einfallen.
Der versucht derweil, trotz Gegenwind aus Berlin aufrecht in die Wahl zu gehen. "Wir müssen uns die Themen vornehmen, die die Menschen im Alltag beschäftigen", sagt Schäfer-Gümbel. Das könne die gesamte Partei von den Genossen in Hessen lernen. "Nur daraus entsteht die Existenzberechtigung einer Partei wie der SPD", sagt er im DW-Gespräch. Für den heutigen Wahlkampftag hat sich Schäfer-Gümbel noch eine Kiosk-Tour, ein Treffen mit Unternehmern und eine Diskussionsrunde zu Gleichberechtigung von Mann und Frau vorgenommen. Viel Parkplatzsuche für seinen Busfahrer. Und viel Überzeugungsarbeit für den Mann, der der SPD zeigen möchte, dass sie noch nicht verloren ist.