SPD am Abgrund
15. Oktober 2018Am Tag nach der Bayernwahl ist die Stimmung in der SPD-Zentrale miserabel. Mit einem schlechten Ergebnis hatten sie in der Parteiführung zwar gerechnet. Aber so schlecht? Nur 9,7 Prozent der Stimmen konnte die bayerische Spitzenkandidatin Natascha Kohnen für die SPD gewinnen. Das ergibt Platz fünf von sechs Parteien, die in den bayerischen Landtag einziehen. Leicht hatte es die SPD in Bayern noch nie, aber dieses Ergebnis ist ein Debakel.
"Wir werden über alles reden, und alles heißt alles", sagt Kohnen, die am Montagmorgen nach Berlin gekommen ist, um an der Sitzung des SPD-Vorstands teilzunehmen. Neben ihr steht Parteichefin Andrea Nahles, die offenbar noch weniger geschlafen hat als Kohnen. Sie ist blass, wirkt frustriert und erschöpft. Unsicher und irgendwie auch ratlos. In den letzten Monaten ist es mit der SPD immer weiter bergabgegangen. Bundesweit kommt die Partei in Umfragen derzeit noch auf 15 Prozent. Eine Volkspartei ist sie damit nicht mehr.
Wer hat den schwarzen Peter?
Immer wieder sucht Andrea Nahles nach den richtigen Worten, um das Wahlergebnis zu erklären. Doch es gelingt ihr nicht. Das Erscheinungsbild der großen Koalition in Berlin sei mitverantwortlich, sagt die 48-jährige. "Das schlechte Bild der Bundesregierung hat auch dazu beigetragen, dass wir nicht durchgedrungen sind mit unseren Themen." Als SPD stehe die Partei aber zusammen, "auch nach einer solchen Niederlage".
Eine Niederlage, die normalerweise sicher Konsequenzen haben würde. Auch personell. Doch in zwei Wochen wird auch in Hessen ein neuer Landtag gewählt. Der dortige SPD-Spitzenkandidat, Thorsten Schäfer-Gümbel, fordert am Montagmorgen vorsorglich Geschlossenheit. "Ich erwarte, dass alle in der SPD jetzt an meiner Seite für den Politikwechsel kämpfen und zeigen, dass die SPD auch anders kann!", sagt er und meint damit, dass die Genossen doch bitte die Füße stillhalten sollen.
Der linke Flügel formiert sich
So diskutiert der SPD-Vorstand zwar hinter verschlossenen Türen, doch der offene Schlagabtausch wird erst einmal vertagt. Größtenteils jedenfalls. Hinter den Kulissen formiert sich allerdings seit Wochen der Widerstand gegen den politischen Kurs der SPD-Parteiführung und vor allem gegen ein Verbleiben in der großen Koalition mit der Union.
Erst am Wochenende traf sich die Parteilinke zu einem "Basiskongress" in Berlin. "Wir wollen stabile Verhältnisse, doch unser Geduldsfaden ist zum Zerreißen gespannt", heißt es in einem Papier, das unter anderem von Juso-Chef Kevin Kühnert, dem SPD-Vorsitzenden von Schleswig-Holstein, Ralf Stegner, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, aber auch von mehreren SPD-Bundestagsabgeordneten unterzeichnet ist. "Mit dem Wert der Stabilität wurden unsere Mitglieder um Vertrauen gebeten - doch weniger Stabilität als mit dieser Union gab es selten in einer deutschen Bundesregierung."
Es brodelt in der Partei
Die Parteilinke fühlt sich in ihrer Ablehnung der "GroKo" mehr als bestätigt. Hatte sie nicht vehement davor gewarnt, dass die SPD in einer erneuten großen Koalition untergehen würde? Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl im September 2017 hatten die Sozialdemokraten zunächst beschlossen, in die Opposition zu gehen und von dort aus die Partei zu erneuern. Dann aber scheiterte die angedachte Jamaika-Koalition zwischen Union, Grünen und FDP. Auf mehreren Parteitagen und in einer Urabstimmung stritten die Sozialdemokraten daraufhin darüber, ob sie ein weiteres Mal mit CDU und CSU eine Regierung bilden sollten.
Am Ende setzten sich die Befürworter durch, allen voran SPD-Chefin Andrea Nahles und ihr Vize Olaf Scholz, der Bundesfinanzminister wurde. Man könne sehr wohl gleichzeitig regieren und die Partei erneuern, beteuerten beide und versicherten zugleich, dass sie den Spagat schon hinbekommen würden. Außerdem sei "gutes Regieren" der eigentliche Schlüssel zum Wiedererstarken der SPD. Eine Hoffnung, die sich mit jedem Streit in der Koalition weiter zunichtemachte.
Wann bricht die Revolte aus?
Inzwischen haben Juso-Chef Kühnert und der linke Parteiflügel keine Lust mehr auf Durchhalteparolen und den Versuchen, von eigenen Fehlern abzulenken. Was es bringe, ständig Sachen zu fordern wie einen fünfjährigen Mietenanstiegsstopp, wenn das mit der Union ohnehin nicht durchzusetzen sei, fragen sich die GroKo-Gegner. Die SPD habe es in den letzten Monaten nicht geschafft, sich klar gegen die Union abzugrenzen und eigenes Profil zu zeigen.
Das sehen offenbar auch die eigenen Anhänger so. Der Partei fehle ein zentrales Thema, mit dem sie die Menschen begeistern könne, sagen SPD-Wähler in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap. Selbst bei einem früher ureigenen sozialdemokratischen Thema, der sozialen Gerechtigkeit, spricht nur noch ein knappes Drittel der SPD-Wähler ihrer Partei tatsächliche Kompetenz zu. Vier von fünf SPD-Wählern, die Infratest befragt hat, fänden es richtig, wenn sich ihre Partei zwecks Regeneration in die Opposition verabschieden würde.
Hat die Sozialdemokratie noch eine Zukunft?
Die SPD gibt in Bayern besonders viele Stimmen an die Grünen ab (-200.000), aber genausoviele an die Parteien rechts von ihr: CSU (-100.000) Freie Wähler (-70 000) und AfD (-30 000). "Die SPD verliert gegenüber 2013 in allen Alters-, Bildungs- und Berufsgruppen. Besonders bei 45- bis 59-jährigen und bei Wählern mit hoher Bildung ist der Rückhalt für die Bayern-SPD deutlich schwächer als vor fünf Jahren, ebenso bei Beamten", analysieren die Wahlforscher von Infratest dimap.
Das sind die Werte für Bayern, aber der Trend ist bundesweit zu beobachten. Da stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung überhaupt noch zu stoppen oder gar rückgängig zu machen ist. Haben die Grünen, die Linke und die AfD nicht längst alle Themen besetzt, die über Jahrzehnte fest in sozialdemokratischer Hand waren? Einst kümmerten sich die Sozialdemokraten um die Belange der Arbeiterschicht. Um das Proletariat, wie es früher hieß. Doch das gibt es in dieser Form nicht mehr. Welchen Teil der Bevölkerung könnte die SPD in Zukunft mit welchem Programm noch erreichen?
Entscheidung noch vor Weihnachten
Wenn es nach den Parteilinken geht - und die wollen schließlich der Motor der Erneuerung sein - wird die SPD in Zukunft viel weiter nach links rücken. Die Arbeitsmarkt- und Sozialreform Agenda 2010 soll abgeschafft und Reiche stärker besteuert werden.
"Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind die, die verlässlich an der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen einseitige Kapitalinteressen, deren neoliberale Ideologie und den Egoismus multinationaler Konzerne stehen", fordern die SPD-Linken nach dem "Basiskongress" vom Wochenende. Forderungen, wie sie allerdings auch im Programm der Linkspartei zu finden sind und bei der gerade erst gegründeten linken Sammlungsbewegung "Aufstehen" der Linkspolitikerin Sahra Wagenknecht.
Sollte die Landtagswahl in Hessen der SPD weitere Verluste bescheren, werden sich die GroKo-Gegner in der Partei wohl nicht länger hinhalten lassen. Dann könnten sowohl die Regierung in Berlin als auch die SPD-Führung um Andrea Nahles schnell Geschichte sein. Für die SPD muss das aber nicht automatisch die Erlösung sein. Käme es zu Neuwahlen, dann könnte das für die Sozialdemokraten auch der noch fehlende letzte Schritt in den Abgrund sein.