Russland nutzt Ohnmacht des Westens
18. September 2015Wenn im Kreml das Telefon klingelt und am anderen Ende der Leitung der syrische Außenminister Walid al-Muallem spricht, könnte der Syrien-Krieg in eine neue Phase treten. Dann könnte Russland seine Präsenz in Syrien massiv verstärken und Bodentruppen entsenden. Die würden an der Seite des Assad-Regimes den Kampf gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) aufnehmen.
Kurzfristig dürften die Truppen aber nicht ausrücken. Derzeit sei das nicht nötig, hatte Al-Muallem kurz zuvor erklärt. Sollte sich die Lage aber ändern, werde man Moskau um Hilfe bitten. "Wenn es eine Anfrage gäbe, würde diese natürlich diskutiert und geprüft im Rahmen unserer bilateralen Kontakte", erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Ria Nowosti zufolge.
Zwar ist die Wirkung von Russlands militärischer Schlagkraft umstritten. Der Politologe Pavel Baev, Militär-Experte für Russland am Friedensforschungsinstitut PRIO in Oslo, hatte im Gespräch mit der DW zuletzt erklärt, die Wahrnehmung der russischen Militärkraft sei "übertrieben".
Diplomatischer Erfolg für die Assad-Regierung
Trotzdem spricht manches dafür, dass eine Anfrage an Moskau für das Regime in Damaskus nichts anderes als eine politische Lebensversicherung ist. Denn wie immer es um die Wirkung eines direkten russischen Eingreifens stehen mag: Bereits die Ankündigung ist für das Assad-Regime ein Erfolg - wenn nicht auf militärischer, so doch auf politischer und diplomatischer Ebene.
Die Regierung Assad gilt im Westen zwar als Schurkenregime, das man am liebsten absetzen würde. Zugleich aber scheint sich derzeit die Ansicht durchzusetzen, dass der Krieg in Syrien nur mit Assad und nicht gegen ihn zu gewinnen ist. Darauf deutet auch das Telefonat zwischen dem russischen und dem US-Verteidigungsminister am Freitag hin. Darin ging es Agenturberichten zufolge um die Möglichkeiten einer gemeinsamen Bekämpfung des IS.
Eine solche Koordination ist aber nur unter einer Bedingung denkbar: dass Assad zumindest vorübergehend an der Macht bleibt. Diese Forderung hält Russland bereits seit Jahren aufrecht. Und die westlichen Staaten scheinen von ihrem Standpunkt, Assad müsse abtreten, immer weiter abzurücken.
So hatte der britische Außenminister Philip Hammond Anfang dieser Woche erklärt, die Regierung sei gewillt, Russland in der Syrien-Frage gegenüber "Kompromisse" einzugehen. In die gleiche Richtung wies auch der österreichische Außenminister Sebastian Kurz. Ein gemeinsames Vorgehen gegen die Extremistenmiliz habe derzeit Priorität: "Das wird nicht ohne Mächte wie den Iran und Russland gelingen, und insofern braucht es hier einen pragmatischen Schulterschluss und auch eine Einbindung Assads im Kampf gegen den IS-Terror." Zwar dürfe man die Verbrechen des Assad-Regimes nicht vergessen. Im Kampf gegen den IS stehe Assad jedoch auf derselben Seite wie der Westen.
Russland auf machtpolitischem Kurs
Ende September wird der russische Präsident Wladimir Putin die Position seines Landes vor den Vereinten Nationen in New York erläutern. Doch schon jetzt scheint klar, dass sich Russland mit seiner Syrien-Politik gegenüber den westlichen Staaten durchgesetzt hat. Putin wolle Russlands außenpolitische Macht ausbauen, erklärt der Militäranalyst Aleksei Malashenko in einem Interview mit der New York Times: "Russlands Aktivitäten in und um Syrien bedeuten, dass das Land in der Lage ist, in den Nahen Osten zurückzukehren. Zwar nicht als eine Supermacht, aber doch als eine Kraft, die die Macht des Westens und der USA auszubalancieren vermag."
Diesem Ziel ist Russland konsequent gefolgt. Anders die westlichen Staaten. Sie haben es nach Ausbruch des Krieges weder vermocht, eine Flugverbotszone im Norden des Landes durchzusetzen, die der Zivilbevölkerung Schutz hätten bieten können, noch waren und sind sie in der Lage, im Syrien-Krieg eindeutig Stellung zu beziehen. Denn ganz gleich, gegen wen sie dort kämpfen würden: Sie stünden entweder an der Seite einer Terrorgruppe, des IS, oder eines Schurkenregimes, der Assad-Regierung. Während der IS seine Grausamkeiten wie etwa die Enthauptung von Geiseln und Soldaten der Assad-Regierung öffentlichkeitswirksam ins Internet stellt, geht das Regime nicht nur gegen die Terroristen, aber auch gegen die syrische Zivilbevölkerung diskret vor. Von den Fassbomben, die es über vom IS beherrschten Städten und Stadtvierteln abwirft, finden sich kaum Videos im Internet. Das trägt entscheidend dazu bei, dass die 250. 000 bis 300. 000 Opfer des Regimes im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit weniger präsent sind als die Opfer des IS.
Ohne "sonderliche Begeisterung"
Der in Bildern für jeden sichtbare Terror des IS spielt Russland - und mit ihm auch der Assad-Regierung - in die Hände. "Putin erkennt vermutlich, dass die USA und Europa nicht mehr mit sonderlicher Begeisterung über einen Machtwechsel in Damaskus nachdenken, sondern sich vor allem auf den IS konzentrieren", sagt Ayham Kamel, Direktor der Nahost-Abteilung des Londoner Beratungsunternehmens Eurasia-Group.
Ethische Erwägungen hat Russland in seiner bisherigen Syrien-Politik bislang offenbar einbezogen. Zumindest hindern die hunderttausenden Opfer des Assad-Regimes Putin nicht daran, dieses weiter zu unterstützen. Die westlichen Staaten hatten und haben in dieser Hinsicht ungleich größere Bedenken. In praktische Politik haben sie ihre ethischen Vorbehalte aber nicht einfließen lassen. Die Syrien-Politik wird mehr und mehr von Russland und seinem wichtigsten Verbündeten, dem Iran, bestimmt. Ihr scheint der Westen nur noch zu folgen.