Streit um "Sozialunion"
23. Mai 2014Droht Deutschland eine massenhafte Zuwanderung von Menschen aus ärmeren EU-Mitgliedsländern, die sich Sozialleistungen erschleichen wollen? Über kaum ein anderes Thema wurde in diesem Europawahlkampf so erbittert gestritten. "Der Anstieg bei Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien betrug seit 2007 insgesamt 141 Prozent", warnte etwa der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer in der "Rheinischen Post" und forderte: "Wir müssen schon im Voraus die falschen Anreize beseitigen, dass Menschen von den Leistungen unseres Sozialsystems angezogen werden und allein deswegen hierher kommen."
Einwandererparadies Deutschlands: Segen oder Fluch?
Deutschland ist als Einwanderungsland so beliebt wie selten zuvor: Laut OECD sind 2013 über 1,2 Millionen Menschen hierher gezogen, etwa zwei Drittel davon aus anderen EU-Ländern. Damit belegt Deutschland weltweit Platz zwei hinter den USA. "Das war aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung bei uns und der schlechten Lage in Südeuropa zu erwarten", meint der Migrationsexperte Herbert Brücker. Doch für viele das ist offenbar nicht nur ein Grund zur Freude, sondern weckt eher Befürchtungen, dass vor allem das gute deutsche Sozialsystem so anziehend wirkt.
Allerdings haben keineswegs alle Neu-Einwanderer sofort Anspruch auf Sozialleistungen - auch dann nicht, wenn sie aus einem anderen EU-Land kommen. Denn nach deutschem Recht können Behörden einem EU-Ausländer, der sich nur zur Arbeitssuche im Land aufhält, die so genannten Hartz IV-Leistungen verweigern. Diese Regelung hat auch der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in dieser Woche bestätigt: Der deutsche Staat darf sich davor schützen, dass EU-Ausländer die Sozialsysteme missbrauchen, so der Generalanwalt in seiner Stellungnahme zu einem Verfahren vor dem EuGH. Im konkreten Fall geht es um eine Rumänin, die in Deutschland lebt und deren Antrag auf Hartz IV abgelehnt wurde, weil sie keine Arbeit sucht. Das endgültige Urteil fällt vermutlich noch in diesem Jahr.
Ein voller Erfolg also für die Haltung der Bundesregierung. Die hat nun angekündigt, die bestehenden Gesetze noch einmal verschärfen zu wollen: Unter anderem sollen EU-Ausländer, die beim Sozialbetrug erwischt werden, fünf Jahre lang nicht mehr nach Deutschland einreisen dürfen. Außerdem sollen für sie schärfere Regeln für den Bezug von Kindergeld gelten - in Deutschland sind das mindestens 184 Euro pro Kind und Monat.
"Die EU ist keine Sozialunion", mit dieser Äußerung in der "Passauer Neuen Presse" hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Diskussion noch einmal nachgelegt - und ruft damit vor allem bei der Opposition Widerspruch hervor. "Das ist der Versuch, kurz vor der Europawahl eine populistische Debatte hochzuziehen, die jeder Grundlage entbehrt", so die Reaktion des sozialpolitischen Sprechers der Grünen-Fraktion im Bundestag, Wolfgang Strengmann-Kuhn. "Wir haben steigende Zuwanderung aus Südosteuropa, wie haben auch soziale Probleme vor Ort - aber wir haben nicht das Problem des Sozialmissbrauchs." Der Grünen-Politiker verweist auf eine Statistik aus dem Bundesland Bayern, wonach es im vergangenen Jahr nur zehn entsprechende Fälle bei rumänischen Einwanderern gab und keinen einzigen Fall bei bulgarischen.
Sozialschmarotzer oder Hungerlöhner?
Die Äußerungen von Merkel, so Strengmann-Kuhn im DW-Interview, seien "ein Angriff auf das soziale Europa." Schließlich sei die Kanzlerin diejenige, die bessere soziale Mindeststandards auf EU-Ebene verhindere: "Wenn es die nämlich gäbe, hätten wir nicht so viele Menschen, die vor Armut zu uns fliehen." Auch Merkels Koalitionspartner SPD hat sich von den Äußerungen der Kanzlerin distanziert: Vize-Parteichef Ralf Stegner etwa warnte davor, kurz vor der Europawahl Stimmung gegen Zuwanderer zu machen.
Doch wie sehr belasten EU-Ausländer überhaupt die deutschen Sozialkassen? Dazu hat das Statistische Bundesamt ebenfalls in dieser Woche konkrete Zahlen vorgelegt: Etwas mehr als 300.000 EU-Ausländer haben im vergangenen Jahr Hartz-IV in einer Höhe von insgesamt 1,7 Milliarden Euro bezogen. Das ist nur ein sehr geringer Anteil der 33 Milliarden, die der deutsche Staat insgesamt für alle Hartz-IV-Empfänger ausgibt. Wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) festgestellt hat, liegt der Anteil der Rumänen und Bulgaren, die Hartz IV beziehen, bei 11,6 Prozent - das ist eine deutlich niedrigere Quote als die bei den Ausländern insgesamt, die bei 16 Prozent liegt. Allerdings wächst die Zahl der bulgarischen und rumänischen Hilfsempfänger rasant.
Aus Sicht des Grünen-Politikers Strengmann-Kuhn vermitteln die nackten Zahlen aber ohnehin ein falsches Bild. "Wenn man sie sich genauer anschaut, dann stellt man fest, dass die überwiegende Zahl der Menschen, die hier Sozialleistungen beziehen, so genannte Aufstocker sind. Sprich: sie haben Arbeit, verdienen aber nicht genug, um davon leben zu können, und dann gibt es ergänzendes Hartz IV." Das eigentliche Problem sei also, dass viele osteuropäische Arbeiter oftmals für zwei oder drei Euro pro Stunde schuften müssten.
Von den deutschen Städte und Gemeinden, die zum Teil sehr unter dem Zuzug von armen Zuwanderern aus Osteuropa leiden, kam dagegen Lob über die Pläne der Bundesregierung, die Gesetze gegen Sozialbetrug zu verschärfen. "Es ist das richtige Signal, EU-Bürgern bei Missbrauch von Sozialleistungen die Wiedereinreise zu untersagen", sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, den "Ruhr Nachrichten". Landsberg forderte auch schärfere Vorgaben für die Zahlung von Kindergeld an Dauer-Zuwanderer und Saisonarbeiter aus dem EU-Ausland. Darüber hinaus müsse darüber nachgedacht werden, ob es wirklich gerechtfertigt sei, dass jemand deutsches Kindergeld beziehen kann, obwohl die Kinder gar nicht in Deutschland leben.
Der Anspruch auf Kindergeld in der gesamten EU gelte bereits seit über 50 Jahren, widerspricht Eberhard Eichenhofer, Rechtswissenschaftler an der Universität Jena: Er sei eine der größten Errungenschaften Europas. "Europa hat nämlich ein soziales Gesicht, auch wenn das selten gesehen wird," sagte er im Deutschlandfunk. "Das erste Gesetz, das die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erließ, betraf die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Das sollte man mehr würdigen, als das zuweilen geschieht."