"Armutszuwanderung lohnt nicht"
21. Mai 2014Muss der deutsche Staat Einwanderern aus anderen EU-Ländern Sozialleistungen zahlen? Über diese Frage wird seit Monaten heftig gestritten. Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat jetzt das deutsche Recht bestätigt: Um Missbrauch zu verhindern, darf Deutschland EU-Bürgern Hartz IV-Leistungen verweigern, wenn sie nur deswegen ins Land gekommen sind. Meist folgt das oberste EU-Gericht in seinen Urteilen dem Votum des Generalanwalts.
DW: Herr Steinmeyer, halten Sie die Argumente des Generalanwalts für nachvollziehbar?
Heinz-Dietrich Steinmeyer: Durchaus, weil er damit den Finger in die eigentliche Wunde legt: Es geht nämlich eigentlich um einen Fehler, den der deutsche Gesetzgeber gemacht hat. Das geht in der aktuellen Diskussion oft unter. Denn es gibt zwar ein Gesetz, das es ermöglicht, Menschen, die hier Arbeit suchen, Sozialleistungen zu verweigern. Aber für den Fall, dass sie gar keine Arbeit suchen, gibt es keine eindeutige Regelung. Die deutschen Gesetze sind also etwas verwirrend. Und insofern schließt der EuGH eine gesetzgeberische Lücke.
Vor dem EuGH geht es ja um den konkreten Fall einer Rumänin, die mit ihrem Kind nach Deutschland gekommen ist, um bei ihrer Schwester zu leben. Welche prinzipielle Bedeutung hat es denn, wenn das höchste EU-Gericht nun ein Urteil in diesem Sinn fällt? Darf Deutschland EU-Einwanderern künftig generell Hartz IV verweigern, oder müssen die Behörden auch in Zukunft jeden Fall mühsam einzeln prüfen?
Das hängt davon ab, wie man das künftig im Einzelnen regelt. An dieser Stelle habe ich auch ein bisschen Bauchschmerzen mit der Argumentation des Generalanwalts, weil er da etwas undeutlich ist. Es dürfte schwer sein, das praktisch umzusetzen. Denn man müsste ja nachweisen, dass jemand nur deshalb nach Deutschland gekommen ist, weil er bestimmte Leitungen erhalten will - das ist nur schwer möglich. Es kommt also darauf an, dass der deutsche Gesetzgeber eine Regelung findet, die allgemeiner gehalten ist, damit es nicht in jedem Fall einen Einzelnachweis braucht. An dieser Stelle wäre es zu wünschen, dass der EuGH in seinem Urteil, das demnächst fällt, etwas eindeutiger ist.
Bisher haben deutsche Gerichte ja in solchen Fällen sehr unterschiedlich entschieden. Im aktuellen Fall hat das Sozialgericht Leipzig ja sogar das eigene Urteil dem EuGH zur Überprüfung vorgelegt. Ist denn zu erwarten, dass ein Urteil des höchsten EU-Gerichts endlich für Klarheit in der Rechtssprechung sorgen wird?
Genau das ist ja das Ziel. Es geht ja im Grunde um die Frage, wie eine europäischen Richtlinie und eine deutsche Verordnung ausgelegt werden und wie beide sich zueinander verhalten. Und wenn der EuGH darüber entschieden hat, dann müsste es eigentlich für die deutschen Gerichte klar sein. Die entscheidende Frage ist, wie der deutsche Gesetzgeber darauf reagiert. Denn der muss dann die deutschen Regelungen dringend anpassen.
Viele deutsche Politiker sprechen ja von einer massenhaften Armutszuwanderung nach Deutschland auf Kosten der Steuerzahler. Wie sehr unterscheiden sich denn die Sozialsysteme in Deutschland und in osteuropäischen Ländern? "Lohnt" es sich denn tatsächlich so sehr, für bestimmte Sozialleistungen nach Deutschland zu kommen?
Nicht unbedingt. Denn "Sozialhilfe" heißt ja im Grundsatz, dass jeder Unterstützung für ein menschenwürdiges Dasein bekommt. Und für ein menschenwürdiges Dasein bekommt man in Rumänien eben weniger - aber man braucht ja auch weniger, weil die Lebenshaltungskosten dort viel niedriger sind. In Rumänien mag man mit 50 Euro pro Woche ganz gut auskommen, das ist hier in Deutschland aber schwierig. Und danach richtet sich natürlich auch die Höhe der Sozialleistungen.
In diesem Sinne "lohnt" es sich für die Rumänin, um die es in diesem Fall geht, vielleicht schon, weil sie ohnehin seit 2010 bei ihrer Familie hier in Deutschland lebt. Aber wenn jemand sagt: Ich ziehe jetzt extra nach Deutschland, um Sozialleistungen zu bekommen - das wäre wohl eine Milchmädchenrechnung.
Heinz-Dietrich Steinmeyer ist Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht der Universität Münster. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit europäischem Sozialrecht und dem Vergleich der sozialen Sicherungssysteme in Mittel- und Osteuropa.
Das Gespräch führte Jeanette Seiffert.