Streit um Nordirland-Protokoll spitzt sich zu
13. Oktober 2021Der Streit zwischen London und Brüssel über den Sonderstatus des britischen Landesteils Nordirland droht zu eskalieren. Einen Tag, bevor die EU mit Lösungsvorschlägen für den Streit um das sogenannte Nordirland-Protokoll aufwarten will, verschärfte die britische Regierung ihren Tonfall. Bei einer Rede in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon warnte der britische Brexit-Minister David Frost die EU am Dienstag davor, einen "historischen Fehler" zu begehen, und forderte die Ablösung der als Teil des Brexit-Abkommens von London und Brüssel geschlossenen Vereinbarung.
"Kurz gesagt, lassen Sie uns versuchen, zur Normalität zurückzukehren", sagte er vor einem Publikum von EU-Diplomaten und Reportern in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon. "Mit einer gewissen Willensanstrengung könnten wir trotz aller Probleme in der Lage sein, das Gift aus diesem Thema zu ziehen und es ein für alle Mal von der diplomatischen Tagesordnung zu streichen."
Streitpunkt Europäischer Gerichtshof
Unter anderem verlangt Frost, die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) als Instanz für die Überwachung der Regeln des Protokolls müsse enden - ein Punkt, der nach Ansicht von Experten aus Brüsseler Sicht nicht verhandelbar ist. Die Forderung sei praktisch nicht zu erfüllen, sagte Holger Hestermeyer, Professor für Internationales Recht und Europarecht am King's College London, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Die EU habe bei der Rolle des EuGH "rechtlich kaum Verhandlungsspielraum", was beiden Seiten bekannt sei. Im schlimmsten Fall könne der Streit zu einer Aufkündigung des Freihandelsabkommens führen, warnte Hestermeyer.
Auch die irische Regierung unterstrich bereits die Bedeutung des EuGH für die Auslegung europäischen Rechts: "Ich verstehe nicht, wie ein britisches Gericht oder ein anderes Gericht das machen könnte, sagte Vize-Regierungschef Leo Varadkar.
Frost drohte auch erneut damit, das Protokoll durch den sogenannten Artikel-16-Notfallmechanismus teilweise außer Kraft zu setzen. Im Streit über mutmaßlich zurückgehaltenene AstraZeneca-Impfstofflieferungen im Frühjahr hatte ihrerseits die EU gedroht, das Protokoll unter Berufung auf diesen Artikel vorübergehend auszusetzen.
Ringen um Grenzen und um Frieden
Mit dem Nordirland-Protokoll gelang während der Austrittsverhandlungen der Durchbruch im Streit um die frühere Bürgerkriegsregion. Das Abkommen sieht vor, dass der britische Landesteil weiterhin den Regeln des EU-Binnenmarkts und der Zollunion folgt. Damit sollen eine harte Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland - und ein neuerlicher Ausbruch des Konflikts um den Status Nordirlands - verhindert werden. Notwendig werden dadurch aber Kontrollen zwischen der britischen Insel und Nordirland. London will sich nämlich nicht mehr an EU-Standards binden. Waren, die von England, Schottland und Wales nach Nordirland gelangen, müssen nun angemeldet und teilweise kontrolliert werden.
Premierminister Boris Johnson hat das so genannte Nordirland-Protokoll als Teil seines Brexit-Abkommens im Jahr 2020 unterzeichnet, aber seitdem argumentiert, dass es in Eile vereinbart wurde und nicht mehr für die Menschen in Nordirland funktioniert.
Die EU hat wiederholt erklärt, sie werde das Protokoll nicht neu verhandeln, und hat Großbritannien dafür kritisiert, dass es ein Abkommen, das beide Seiten in gutem Glauben unterzeichnet haben, nicht einhält. Es wird erwartet, dass die EU ihr Paket als Antwort auf eine Reihe von Vorschlägen vorlegt, die Großbritannien im Juli unterbreitet hat und in denen Londons Wunsch nach einer Überarbeitung von Teilen des Protokolls, das den Handel und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) regelt, zum Ausdruck kommt.
ies/ehl (dpa, rtr)