Streit statt Einigkeit nach Blutbad in Ankara
10. Oktober 2015Weinend läuft eine Frau über den Platz vor dem Bahnhof der türkischen Hauptstadt Ankara. "Ich kann meine Kinder nicht finden, ich kann meine Kinder nicht finden", ruft sie. In der Nähe hält ein Mann tröstend eine andere weinende Frau im Arm, die Gesichter der beiden sind mit Blutspritzern bedeckt. An einer Wand lehnt ein Schild mit der Aufschrift "Frieden - jetzt sofort" - auf dem Straßenpflaster davor breitet sich eine Blutlache aus.
Der Bahnhofsvorplatz gleicht nach dem schweren Anschlag von Ankara am Samstagvormittag einem Kriegsgebiet. Leichenteile liegen auf der Straße, Verletzte schreien um Hilfe, die Sirenen der Krankenwagen heulen unablässig. Mutmaßliche Selbstmordattentäter haben sich inmitten einer Menschenmenge vor einer geplanten Demonstration linker und kurdischer Gruppen und Parteien in die Luft gesprengt.
Die Ärztekammer von Ankara ruft alle verfügbaren Mediziner zum Notdienst in die Krankenhäuser, weil das Klinikpersonal die vielen Verletzten nicht mehr versorgen kann. Tausende Bürger melden sich zur Blutspende. Die Behörden richten wegen der großen Zahl der Todesopfer ein zusätzliches Leichenschauhaus ein.
Nur wenige Minuten nach den beiden Explosionen, die im Abstand von wenigen Sekunden aufeinander folgen, gibt es erste Spannungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Einige Kundgebungsteilnehmer greifen einen Polizeiwagen an, weil sie sicher sind, dass der Staat bei der Gewalttat seine Hände im Spiel hatte.
Andere beschweren sich, dass die Krankenwagen erst mit erheblicher Verspätung am Tatort eintreffen, obwohl sich der Anschlag mitten in Ankara ereignete. Mehrere Minister, die sich vor Ort ein Bild von der Lage machen wollen, werden von einer wütenden Menge verjagt.
Kurdenpartei spricht von "Massaker"
Rasch folgen die ersten Schuldzuweisungen. Selahattin Demirtas, Chef der legalen Kurdenpartei HDP, spricht von einem "Massaker". Die HDP sieht sich selbst als Hauptangriffsziel: Die Bomben seien an jener Stelle gezündet worden, an der sich die HDP-Delegation für die Kundgebung versammeln sollte. Die Polizei habe Helfer, die sich um Verletzte kümmerten, mit Tränengas angegriffen. Bei der Kundgebung wollten die HDP und andere Organisationen ein Ende der Gewalt zwischen den Sicherheitskräften und den PKK-Rebellen fordern. Die Kurdenpartei sieht die Hauptverantwortung für die jüngste Eskalation bei der Regierung.
Beobachter sind sich einig, dass es die Täter es auf den kurdischen Friedensprozess abgesehen hatten - oder auf das, was davon übrig ist. Nach monatelangen Kämpfen mit Armee und Polizei wurde in den Stunden vor dem Anschlag ein neuer Waffenstillstand der PKK erwartet. "Wer immer es war: Er wollte nicht, dass die derzeitigen Kämpfe in der Türkei aufhören", schrieb der in London ansässige Türkei-Experte Ziya Meral auf Twitter. Doch dieses Ziel wurde nicht erreicht: Die PKK verkündete wenige Stunden nach der Explosion wie erwartet ihre Feuerpause.
Drei Wochen bis zur Wahl
Unterdessen appellierten Erdogan und andere Politiker an die Türken, sie sollten sich nicht von den Gewalttätern von Ankara gegeneinanderhetzen lassen. Politiker von Regierung und Opposition sagten nach dem Anschlag ihre Wahlkampfauftritte für die kommenden Tage ab.
Doch das bedeutet nicht, dass die Spannungen drei Wochen vor der vorgezogenen Parlamentswahl am 1. November nachlassen werden. Im Gegenteil: Kritiker werfen Erdogan vor, er habe die neuen Spannungen zwischen dem Staat und der PKK seit dem Sommer bewusst geschürt, um bei der November-Wahl rechte Wähler für die AKP zu gewinnen. Umgekehrt beschuldigte der regierungsnahe Journalist Fatih Tezcan die HDP am Samstag, sie selbst stecke hinter dem Blutbad von Ankara. Die Kurdenpartei wolle mit Hilfe des Mitleidseffektes ihren Stimmenanteil steigern.
Auswärtiges Amt: Zentrum von Ankara meiden
Das Auswärtige Amt rät Deutschen, das Zentrum der türkischen Hauptstadt zu meiden. Landesweit sei mit einer Zunahme der politischen Spannungen zu rechnen, hieß es bei den Reisehinweisen zur Türkei. "Weitere Anschläge oder gewaltsame Auseinandersetzungen sind nicht ausgeschlossen. Es wird daher nochmals dringend darauf hingewiesen, dass sich Reisende von Demonstrationen, Wahlkampfveranstaltungen und größeren Menschenansammlungen, insbesondere in größeren Städten, fernhalten sollten."