Deutsch-polnisches Geschichtsbuch vor Aus?
7. Juli 2022Den Anfang machten vor fast zwei Jahrzehnten Deutsche und Franzosen: 2006 erschien in beiden Ländern der erste Band eines gemeinsamen Schulbuchs, in dem deutsche und französische Gymnasiasten die Nachkriegsgeschichte beider Länder aus beiden Perspektiven kennen lernen können. Kurz darauf brachte der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier die Idee eines deutsch-polnischen Geschichtsschulbuchs ins Gespräch.
In einer Rede zur Eröffnung des Studienjahres an der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder im Herbst 2006 sagte der deutsche Chefdiplomat: "Vielleicht ist es nicht unmöglich, mittelfristig auch ein gemeinsames deutsch-polnisches Geschichtsbuch zu erarbeiten, das uns hilft, uns gegenseitig besser zu verstehen."
"Mit diesem Projekt", so Steinmeier weiter, "könnten wir Deutsche deutlich machen, dass wir offen sind für polnische Sichtweisen auf die Geschichte". Viele Deutsche würden es "als Bereicherung empfinden, diese Sichtweise besser kennen zu lernen und mehr aus der polnischen Geschichte zu erfahren".
Doch der Vorschlag kam zu ungünstiger Zeit: In Polen regierten die Nationalkonservativen mit Jaroslaw Kaczynski an der Spitze, die den Deutschen misstrauten und auf den Vorstoß aus Berlin äußerst skeptisch reagierten. Erst der Machtwechsel in Warschau im Herbst 2007 brachte die Wende.
Grünes Licht aus Polen
Der damals neue polnische Außenminister Radoslaw Sikorski gab grünes Licht für das Schulbuchprojekt. Zusammen mit Steinmeier kündigte er im Mai 2008 den Beginn der Arbeiten an. Starker Partner beider Regierungen wurde die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission, die seit 1972 deutsche und polnische Schulbücher von einseitigen und nationalistischen Inhalten säubert.
2016 feierten beide Regierungen das Erscheinen des ersten Bandes der Buchreihe "Europa - Unsere Geschichte". Vier Jahre später wurde der vierte, letzte Band fertig. Doch die Stimmung in Polen hat sich inzwischen wieder gedreht: Im Warschauer Erziehungsministerium sitzt seit 2020 mit Przemyslaw Czarnek wieder ein national-katholischer Hardliner. Und antideutsche Rhetorik ist fester Bestandteil der Politik der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS).
Ärger um Band 4
Das deutsch-polnische Geschichtsschulbuch ist in Deutschland bis auf Bayern in allen Bundesländern zugelassen. In Polen bekamen die ersten drei Bände auch problemlos die erforderliche Zulassung als reguläres Lehrbuch. Doch Band 4, der die heikle Zeit vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegenwart behandelt, stieß auf Vorbehalte.
Die Regierenden in Polen benutzen diese Periode in ihrer Geschichtspolitik gern gegen politische Gegner - in der Innen- und Außenpolitik. Ein Teil der befragten polnischen Experten gab dem Lehrbuch zudem negative Bewertungen. Und ein vom Erziehungsministerium zusätzlich angeordnetes Gutachten bestätigte die negative Note. Deshalb wurde Band 4 des deutsch-polnischen Geschichtsbuchs nicht auf die Liste der für den Unterricht in Polen empfohlenen Titel aufgenommen.
Stein des Anstoßes: Multiperspektivität
"Multiperspektivität und Kontroversität sind besondere Stärken des deutsch-polnischen Schulbuchs", urteilt Peter Gautschi von der Pädagogischen Hochschule Luzern (Schweiz). Für besonders wertvoll hält er "Quellen, die die Ereignisse aus verschiedenen Perspektiven beleuchten", sowie "kontroverse Ansichten der modernen Forschung, die sich in Zitaten im Buch finden".
Gelungen findet der Wissenschaftler auch die Gegenüberstellung der Erinnerungskulturen in Polen und Deutschland. Doch gerade diese Multiperspektivität ist es, die die derzeitigen Entscheidungsträger in Warschau beunruhigt.
Ideologie statt Wissenschaft?
"Tendenziös" findet der polnische Historiker Robert Traba das entscheidende Gutachten, das sein Kollege Grzegorz Kucharczyk zum Band 4 des deutsch-polnischen Geschichtsbuchs verfasst hat. "Statt das Schulbuch zu bewerten, hat Kucharczyk seine Vision der Geschichtspolitik präsentiert." Traba war bis 2020 Ko-Vorsitzender der gemeinsamen Schulbuchkommission und ist daher mit dem Schulbuchprojekt bestens vertraut.
Gutacher Kucharczyk gilt als ausgewiesener Preußen-Kenner und ist in Polen als Kommentator der nationalistisch-katholischen Medien Radio Maryja und Nasz Dziennik bekannt. Ihm gefiel unter anderem nicht, dass das gemeinsame Geschichtsbuch auch Kritik am Warschauer Aufstand vom August 1944 enthält. Die Erhebung gegen die deutschen Besatzer gilt Polens Rechten als "nationales Heiligtum". Kritische Fragen nach dem Sinn des Aufstands sind unerwünscht.
Enttäuschung in Deutschland
Der deutsche Ko-Vorsitzender der gemeinsamen Schulbuchkommission, Hans-Jürgen Bömelburg, macht keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. "Ich finde es schade, denn dieses Buch bietet eine angemessene Darstellung der Geschichte Polens. Das hat es bisher in einem nicht-polnischen Schulbuch in Deutschland nicht gegeben," so der Historiker von der Universität Gießen gegenüber der DW. Die "Blockadepolitik der polnischen Regierung" findet Bömelburg unverständlich.
Tatsächlich kann der vierte Band des gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchs im Unterricht in Polen auch ohne einen Platz auf der Empfehlungsliste des Erziehungsministeriums benutzt werden - allerdings nur als Hilfsmittel. Viele Lehrer bevorzugen aber die vom Ministerium empfohlenen Titel, schon um eventuellen Ärger mit Vorgesetzten zu vermeiden. Hilfsmittel sind außerdem gegenüber Schulbüchern finanziell benachteiligt.
Für einen Skandal hält Historiker Traba, dass es wegen der ablehnenden Haltung der polnischen Regierung keine gemeinsame Vorstellung von Band 4 gab. "Das ist ein Bruch der Vereinbarungen", sagt er der DW.
Um das Projekt zu retten, hat der polnische Verlag Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne (WSiP) das umstrittene Lehrbuch nun aus dem Zulassungsverfahren zurückgezogen, bevor die Ablehnung des Ministers sein Schicksal endgültig besiegelt. "Wir werden den Antrag auf Zulassung erneut stellen", kündigte ein Verlagsvertreter an.
Doch wann es dazu kommen wird und ob sich die Regierung Polens umstimmen lässt, bleibt fraglich. Wahrscheinlich müssen Schülerinnen und Schüler zusammen mit dem Verlag dafür auf einen erneuten Machtwechsel in Warschau warten.