Bürgerrat: Was darf man noch essen?
3. Oktober 2023"Man soll dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Mund reden." Der CSU-Politiker Franz-Josef Strauß, der das gesagt hat, ist längst tot. Was er meinte, gilt bis heute: Die Politik sollte das Ohr immer dicht am Volk haben, doch Entscheidungen müssen von übergeordnetem Interesse sein.
Deutschland ist keine direkte, sondern eine parlamentarische Demokratie. Zwar steht im Grundgesetz: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". Doch Macht üben die Bürger als Souverän nur mittelbar aus, indem sie Abgeordnete wählen, die Entscheidungen treffen.
Das Volk wieder näher ans Ohr holen
Der Politik wird immer häufiger vorgeworfen, den Bezug zum Volk verloren zu haben. "Die da oben" sagen Kritiker und meinen damit, Politiker würden abgehoben von dem entscheiden, was die Mehrheit der Bevölkerung meint und will. Eine deutliche Mehrheit der Deutschen weiß die Demokratie zwar als gute Regierungsform zu schätzen, doch mit der Praxis der bundesdeutschen Demokratie ist in Westdeutschland nur noch knapp die Hälfte zufrieden, in Ostdeutschland sind es nur drei von zehn.
Anfang 2018 gab es aus dem Bundestag die Anregung, Politiker sollten sich das Volk wieder näher ans Ohr holen. Ein Ausschuss, der sich mit Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung befasste, schrieb in einer Stellungnahme: "Viele Bürgerinnen und Bürger wollen nicht nur alle vier Jahre in der Wahlkabine ihr Kreuz machen, sondern auch dazwischen zu aktuellen Themen gefragt und gehört werden und mitentscheiden können."
Thema Außenpolitik: Komplex und überfordernd
Auf Initiative des Vereins "Mehr Demokratie" beriet 2019 erstmals ein Bürgerrat über mehr Bürgerbeteiligung in der Politik. 2020 folgte ein Bürgerrat zu der Frage, welche Außenpolitik Deutschlands gewachsener Rolle in der Welt zukünftig gerecht werden könnte. 40 Experten waren beratend eingebunden.
Allerdings stellte sich schnell heraus, wie komplex das Thema war. "Die zum Teil vorhandene fachliche und inhaltliche Überforderung der Teilnehmenden wurde von vielen über den gesamten Zeitraum hinweg immer wieder geäußert. Sie war auch Gegenstand von Kritik der Teilnehmenden", hieß es in einem Bericht der Bundestagsverwaltung. Ein Abschlussbericht wurde dennoch formuliert und an den damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble übergeben.
Ist Ernährung Privatsache?
Ende 2021 vereinbarten SPD, Grüne und FDP in ihrem Koalitionsvertrag unter der Überschrift "Lebendige Demokratie", dass weitere "Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen" eingesetzt werden sollten, und versprachen außerdem: "Eine Befassung des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt."
Es ist der erste Bürgerrat, der vom Bundestag eingesetzt wurde. Die Abgeordneten wählten auch das Thema aus und entschieden sich für "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben." In Deutschland gibt es Nahrung im Überfluss. Doch die Tierhaltung und der Fleischkonsum produzieren viel CO2. Zu viel Zucker macht Menschen dick und krank. Um die Essgewohnheiten der Menschen zu ändern, würden die Grünen Lebensmittel gerne danach kennzeichnen, ob sie gesund und klimafreundlich sind. Die FDP lehnt solche Eingriffe der Politik kategorisch ab.
Wie setzt sich der Bürgerrat zusammen?
Die Teilnehmer des Bürgerrats wurden in mehreren Losverfahren ermittelt. In einem ersten Schritt wurden knapp 20.000 Personen aus ganz Deutschland zufällig ausgelost und eingeladen. 2.220 davon bekundeten ihr Interesse an einer Teilnahme. Aus diesen Rückmeldungen wurden durch einen Computer-Algorithmus 1.000 mögliche Bürgerräte mit je 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammengestellt, von denen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas einen ausloste.
Der Algorithmus war so programmiert, dass der Bürgerrat unter anderem mit Blick auf Alter, Geschlecht und Bildungshintergrund einen Querschnitt der Bevölkerung abbildet. Auch der Anteil von Veganern und Vegetariern wurde berücksichtigt.
"Sagen Sie, was Sie denken!"
Vom 29. September bis zum 1. Oktober kam der Bürgerrat erstmals im Bundestag zusammen. "Sagen Sie, was Sie denken - und reden Sie, wie Sie immer reden", gab Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) den Teilnehmern mit auf den Weg.
Die Parlamentarier würden wissen wollen, was den Leuten beim Thema Ernährung wirklich unter den Nägeln brenne, wo es unterschiedliche Meinungen gebe und welche Themen zwar medial "heiß diskutiert" würden, aber viele Menschen kalt lasse.
Keine falsche Harmonie
Der Bürgerrat sei in vielerlei Hinsicht eine Chance. "Sie werden Menschen kennenlernen, denen Sie sonst wohl nicht begegnet wären. Menschen mit ganz anderem Hintergrund, ganz anderen Lebenserfahrungen. Lassen Sie sich überraschen von den Argumenten der anderen!" Respekt sei wichtig, aber ohne falsche Harmonie. "Der Bürgerrat soll auch aufzeigen, wo es Konflikte gibt", so Bas.
In drei Präsenzsitzungen und weiteren sechs Online-Terminen wird das Thema Ernährung in den kommenden Wochen und Monaten diskutiert. Im Februar 2024 soll ein "Bürgergutachten" erarbeitet sein, in dem "Handlungsempfehlungen" für die gewählten Parlamentarier stehen. Die Grundlagen für die Arbeit des Bürgerrats werden - wie schon 2020 - zahlreiche Experten beisteuern.
Vorbild Irland
In anderen Demokratien, etwa im diesbezüglich sehr progressiven Irland, gibt es bereits gute Erfahrungen mit Bürgerräten, doch dort hatten die Empfehlungen konkrete Auswirkungen, weil sie in Referenden mündeten. In Deutschland ist das nicht möglich. In der Union gibt es trotzdem die Befürchtung, dass das Vorhaben die Bedeutung von Parlamenten unterminieren könnte.
Die in Teilen rechtsextreme AfD hält Bürgerräte für unnötig und fordert vielmehr "die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden". Die Linksfraktion fordert, dass die Empfehlungen des Bürgerrats "verbindlicher" für das Parlament sind.
"Wir werden uns sehr ernsthaft mit Ihren Vorschlägen auseinandersetzen. Das kann ich Ihnen versichern", sagte Bundestagspräsidentin Bas bei der ersten Sitzung des Bürgerrats. Was sie aber auch sagte: "Verbindliche Entscheidungen können in unserer parlamentarischen Demokratie nur die gewählten Abgeordneten treffen."