Künftige Regierung sucht Rat von Bürgern
27. November 2021Im Koalitionsvertrag heißt es bereits auf den ersten Seiten unter der Überschrift: "Lebendige Demokratie" :
"Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen...Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren...Eine Befassung des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt".
Vorüber scheinen in Bezug auf Bürgerräte die Zeiten des Unverbindlichen und von Pilotprojekten. Aus dem Bekenntnis im Koalitionsvertrag lässt sich herauslesen: Wählerinnen und Wähler sollen nicht nur alle vier Jahre ein Kreuz auf dem Wahlzettel hinterlassen; sie sollen häufiger angehört werden und sich stärker einbringen können.
"Das ist vielversprechend und ein guter Schritt in die richtige Richtung", freut sich Claudine Nierth, Vorstandssprecherin des Vereins "Mehr Demokratie". Dieser Verein setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass die Gräben zwischen den gewählten Abgeordneten, die repräsentativ für die Menschen in Deutschland Politik machen sollen und den Vorstellungen in der Bevölkerung überwunden werden. Zu den Erfolgen des Vereins gehört es, den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) vom Wert basisnaher Beratungsgremien überzeugt zu haben - trotz dessen anfänglicher Skepsis.
Es hat schon funktioniert
Bereits im Frühjahr 2021 hatte der Bundestag in einem groß angelegten Versuch einen Bürgerrat beauftragt, sich mit der "Rolle Deutschlands in der Welt" zu beschäftigen und Ideen für eine künftige Außenpolitik zu entwickeln. Mehrere anerkannte unabhängige Institute überwachten zunächst ein Losverfahren. Das stellte über die Einwohnermeldeämter rund 150 Bürger zusammen. Die bildeten nach Alter, Geschlecht, Bildung, sozialem Stand sowie politischer Einstellung den Durchschnitt der Bevölkerung in Deutschland ab. Die meisten der auf diese Weise zufällig Ausgelosten stimmten der Mitarbeit im Bürgerrat zu. "Das ist ja wie ein Sechser im Lotto, Politik mitgestalten zu dürfen", war von etlichen Teilnehmern zu hören.
Diese Gruppe wurde anschließend außerhalb des Bundestages mit Fachleuten zusammengebracht. Die sollten mit ihrer Sachkenntnis die fachliche Grundlage schafften, damit der Bürgerrat geeignete und kluge Ideen für das Parlament formulieren konnte. Über 30 konkrete Vorschläge wurden formuliert - und fanden Gehör und Eingang in mehreren Parteiprogrammen.
Das Prinzip für die Zukunft: Bürger beraten in stets wechselnden, aber immer ausgelosten Zusammensetzungen zu allen gesellschaftlich relevanten Themen. Teilnehmer sollen auch in entsprechenden Ausschüssen angehört werden können. Die letztgültigen Entscheidungen liegen weiterhin bei den hauptamtlichen Politikern.
Bürgerräte haben viele Unterstützer
Dem Bürgerratfreund Schäuble ist die SPD-Abgeordnete Bärbel Bas ins Amt des Bundestagspräsidentin gefolgt. Auch Bas möchte das Format der Bürgerräte mit mehr politischer Teilhabe vertiefen: "Die kommende Legislaturperiode wünsche ich mir offen und lebendig. Gemeinsames Ringen um die Wege in die Zukunft". Die Grünen gründeten bereits 2020 ein "Netzwerk lebendige Demokratie". Die Parteispitze erklärt: "Eine lebendige Demokratie ist die beste Antwort gegen Rechtspopulismus und Politikverdrossenheit." Das grüne Grundsatzprogramm sprach sich zwar noch gegen bundesweite Volksentscheide aus, formulierte aber ein klares "Ja" zu Bürgerräten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist überzeugt: "Ich wünsche mir, dieses Engagement nicht wegzustoßen, sondern aufzugreifen und einzubinden." Er wünschte sich mehr "irischen Mut". In Irland sind Bürgerräte inzwischen fester Bestandteil der Politik. Sie sind auch Vorbild für die deutschen Bürgerräte, die auf kommunaler Ebene im Dialog mit Politikern schon gute Kompromisse in vielen Lebensbereichen ermöglicht haben.
Steinmeier war noch im Oktober in Irland, wo er Mitglieder der "Citizens Assembly" traf. Von ihnen wollte er zum Beispiel wissen, wie sie es in dem konservativ katholischen Land schafften, sogar die gleichgeschlechtliche Ehe und andere Verfassungsänderungen durchzusetzen. Das Geheimnis lag wohl in den strengen Regeln des Dialogs, sich auch mit anders Denkenden sachlich auseinander setzen zu müssen.
Demokratie "schmecken"
"Die Demokratie braucht uns" heißt das Buch, in dem Claudine Nierth vom Verein "Mehr Demokratie" ihre Erfahrungen beschreibt, wie Wählerinnen und Wähler besser in politische Entscheidungen eingebunden werden. Im Gespräch mit der DW erklärt sie dazu: "Man muss Demokratie schmecken" Das benötige regelmäßige Gelegenheit und ständiges Ausprobieren. Wie jetzt in den Bürgerräten. Nierth offenbart auch eine Art Erfolgsrezept: "Wenn man fair ist, wird man überrascht sein, wieviel im Dialog mit den handelnden Politikern möglich wird." Feindliche Verbalattacken mit den ewig gleichen Vorurteilen oder lediglich aggressive Forderungen würden Politiker eher verschrecken und eine Abwehrhaltung aufbauen. "Wir haben signalisiert, ihr Politiker habt es nicht leicht, bestimmte politische Entscheidungen zu treffen. Wir müssen Brücken bauen. Wir strecken die Hand für einen Dialog aus." Es scheint, als wollten Vertreter der künftigen Regierung diese Hand ergreifen.