Sind 100 Prozent erneuerbare Energie möglich?
29. Juni 2022Im Laufe dieses Sommers soll im Kohlekraftwerk Moneypoint, an der Südwestküste Irlands, ein neuer Wechselstromgenerator ans Netz gehen. Eine kohlebefeuerte Dampfturbine wird allerdings nicht angeschlossen und auch sonst kein Aggregat, mit dessen Hilfe Strom erzeugt werden könnte. Stattdessen liegt auf der Welle ein 120 Tonnen schweres Schwungrad von etwa vier Metern Länge und einem Durchmesser von zwei Metern, das mit Strom aus dem Netz in Rotation versetzt werden muss.
Die einzige Aufgabe der Anlage ist es, "rotierende Masse" vorzuhalten und bei Bedarf sogenannte Momentanreserve bereitzustellen - also Leistung, die Frequenzschwankungen im Netz unmittelbar entgegenwirkt. Stromnetze sind nämlich nur stabil, wenn Einspeisung und Verbrauch sich die Waage halten. Ein Ungleichgewicht verändert die Frequenz, im Extremfall führt das zum Stromausfall.
Momentanreserve geht massenhaft vom Netz
Jahrzehntelang hat sich niemand Gedanken um Momentanreserve gemacht. Denn konventionelle Kraftwerke, mit all der rotierenden Masse in ihren Turbinensträngen, lieferten sie praktisch kostenlos im Überfluss mit. Doch nun, da diese Kraftwerke fast überall in Europa - und einigen anderen Teilen der Welt - reihenweise stillgelegt werden, rückt die Momentanreserve immer stärker in den Fokus der Netzbetreiber. Denn es droht ein kritischer Engpass.
"Insbesondere Länder mit kleineren isolierten Stromnetzen und einem hohen Anteil erneuerbarer Erzeugung - zum Beispiel Irland und Großbritannien - sind davon bereits heute betroffen und steuern massiv dagegen, indem sie Schwungräder installieren", sagt Stephan Werkmeister von Siemens Energy. Das deutsche Unternehmen hat bereits Schwungräder nach Großbritannien, Australien, Italien und - das größte im Siemens-Angebot - nach Moneypoint in Irland geliefert.
Deutschland hat Bedarf ermittelt
"Im großen Europäischen Verbundnetz sind die Kompensationsmöglichkeiten größer", sagt Siemens-Experte Werkmeister. Deshalb benötigt es im Verhältnis etwas weniger Momentanreserve. Das kontintentaleuropäische Verbundnetz reicht von Portugal über Dänemark bis Griechenland und seit kurzem in die Ukraine. Doch auch in Deutschland haben die Netzbetreiber das Problem bereits auf dem Radar: Im "Netzentwicklungsplan Strom" von 2021, einem Planungspapier, den die vier Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland unter Aufsicht der Bundesnetzagentur (BNetzA) alle zwei Jahre neu auflegen, wird ein Kompensationsbedarf von 40 Gigawatt bis 2035 angenommen. Das entspricht der Leistung von 40 großen Kohle- oder Kernkraftblöcken.
Wie viel Momentanreserve bisher aus dem Netz gefallen ist, könne die BNetzA nicht ermitteln, heißt es auf Anfrage der DW. Die verbliebene Leistung reiche aber bisher aus, um einen Schwarzfall zu verhindern.
Engpässe können zu großflächigem Blackout führen
Ernst könnte es vor allem werden, wenn sich ein Stromnetz in zwei Teile aufspaltet. So geschehen am 8. Januar 2021, als eine Störung in einer Verbindungsstelle in Kroatien weite Teile Südosteuropas vom Rest des Europäischen Verbundnetzes abschnitt. Ein Stromausfall konnte unter anderem verhindert werden, weil in beiden Teilen genug Momentanreserve verfügbar war.
"Mitten in Deutschland könnte ein System-Split weniger glimpflich ablaufen", sagt Sönke Rogalla, der sich am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE mit der Materie befasst. Das Szenario, an das er denkt: Wenn an einem windigen Tag die Windkraftanlagen in Norddeutschland die Industrieanlagen im Süden mit Strom versorgen, würde ein Systemsplit dazwischen einen massiven Überschuss an Strom in Norddeutschland und einen ebenso massiven Mangel an Strom im südlichen Stromnetz verursachen.
Nur ein große Menge Momentanreserve könnte die Frequenzveränderung dann so stark verlangsamen, dass den Netzbetreibern genug Zeit bleibt, Erzeugungs- und Verbrauchsanlagen so zu- und abzuschalten, dass sich ein neues Gleichgewicht einstellt. Andernfalls würden sich zum Beispiel Industrieanlagen aufgrund von Sicherheitsmechanismen selbst abschalten und dadurch eine unkontrollierbare Kettenreaktion auslösen. "Die wahrscheinlichste Folge wäre ein großflächiger Stromausfall, der auch auf andere Länder des Europäischen Verbundnetzes übergreifen könnte", sagt Rogalla.
Erneuerbare können bisher keine Momentanreserve liefern
Der Netzentwicklungsplan sieht vor, dass künftig auch erneuerbare Erzeugungsanlagen Momentanreserve bereitstellen sollen. Derzeit würden Regularien erarbeitet, mit denen Betreiber dazu verpflichten werden könnten, heißt es aus der Bundesnetzagentur. Nur: Stand heute können sie das gar nicht.
Auch wenn in den rund 30.000 Windkraftanlagen durchaus einige Tausend Tonnen rotierende Masse und damit theoretisch auch mehrere Gigawatt an Momentanreserve zusammenkommen: "Windenergieanlagen reagieren, Stand heute, nicht instantan auf Frequenzschwankungen", sagt Wolf Schulze, der am Karlsruhe Institute of Technology nach Lösungen forscht.
Wechselstrom-Synchron-Generatoren, wie sie in konventionellen Kraftwerken zur Stromerzeugung eingesetzt werden, reagieren "instantan", also in Echtzeit, auf Frequenzschwankungen und wirken ihnen entgegen: "Dies geschieht physikalisch inhärent", sagt Schulze. "Eine Steuerung ist dafür nicht notwendig."
Wind- und Solarkraft ertüchtigen
Das können die Generatoren* von Windkraftanlagen nicht, weil der Strom verschiedene Software-gesteuerte Umrichter und Phasenschieber passieren muss, bevor er ins Netz eingespeist werden kann. Das Gleiche gilt für Photovoltaikanlagen. Auch bei Batteriespeichern sind Lade- und Entladevorgänge softwaregestützt. All diese Prozesse dauern zwar nur einige Hundertstelsekunden, doch das kann genügen, um das Stromnetz bei größeren Zwischenfällen gefährlich ins Trudeln zu bringen.
"Wir wollen eine Software entwickeln, die die instantane Reaktion simuliert und Windenergieanlagen dazu bringt, entsprechend zu reagieren", erklärt Schulze. Dass das theoretisch geht, ist bekannt. Dass es - zumindest bei Photovoltaikanlagen - auch praktisch funktioniert, hat Sönke Rogalla am Fraunhofer ISE bereits gezeigt: "Photovoltaik-Anlagen sind besonders geeignet, um negative Momentanreserve bereitzustellen", erklärt der Forscher. Das heißt: Sie reduzieren ihre Einspeisung, sobald ein Stromüberschuss im Netz herrscht.
Ohne rotierende Masse wird es nicht gehen
Um erneuerbare Erzeugungsanlagen zur Momentanreserve zu ertüchtigen, müsste ihnen also vor allem eine neue Steuerungssoftware aufgespielt werden. Für Windkraftanlagen würde das zwar auch eine mechanische Mehrbelastung bedeuten, doch die wäre nur in Ausnahmen problematisch, sagt Boris Fischer, der genau dies am Fraunhofer-Instituts für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik untersucht hat.
"Netzstabilisierende Leistung bereitzustellen, würde bei alltäglichen Frequenzschwankungen keine kritische Belastung darstellen", sagt Fischer. "Nur bei seltenen Netzfehlern, bei denen große Leistungsdefizite oder -überschüsse entstehen, kann es bei bestehenden Windenergieanlagen zu einer übermäßigen mechanischen Belastung von Triebstrang und Turm kommen."
Auch deshalb wohl rechnen die Netzbetreiber damit, dass sie für solche Großereignisse auch in Zukunft "echte" rotierende Masse vorhalten müssen. Konventionelle Kraftwerke braucht man dafür allerdings nicht. In Deutschland hat man bereits die Synchrongeneratoren einiger stillgelegter Kohle- und Kernkraftwerken stehen lassen und lässt sie nun - ohne Turbinen - am Netz mitlaufen. Die Weiternutzung schont zwar kurzfristig Geldbeutel und Ressourcen, langfristig aber dürften sich vakuumgelagerte Schwungräder wie das in Moneypoint als effizientere und nachhaltigere Lösung erweisen.
* In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, in Windenergieanlagen würden Gleichstromgeneratoren genutzt. Häufiger sind aber Wechselstromgeneratoren. Wegen der wechselnden Drehzahl produzieren sie jedoch Wechselstrom mit alternierender Frequenz. Deshalb muss der Strom vor der Einspeisung ins Netz in 3-Phasen-Wechselstrom mit konstanten 50 Hertz umgerichtet werden. (Aktualisiert am 28.11.2022)