Selenskyj in Warschau: Demonstrativer Schulterschluss
6. April 2023Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war in den vergangenen Monaten bereits in Washington, London, Paris und Brüssel. Nun besuchte er auch die polnische Hauptstadt Warschau. In gewisser Weise ist die Visite in Polen sein erster "echter" offizieller Besuch im Ausland: Erstmals ein Besuch, der von beiden Seiten vorher angekündigt wurde und erstmals ein Staatsbesuch, den Selenskyj nach Kriegsausbruch zusammen mit seiner Ehefrau Olena unternahm.
Die polnischen Gastgeber bereiteten den Staatsgästen aus der Ukraine einen würdigen Empfang mit militärischen Ehren. Und: Selenskyj erhielt die höchste Auszeichnung Polens - den Orden des Weißen Adlers. Der Besuch wurde, auch durch diese Gesten, zum demonstrativen Schulterschluss zwischen zwei Staatschefs und zwei Nationen, die Russland als existenzielle Bedrohung für Europas Sicherheit betrachten und fest entschlossen sind, dieser Gefahr die Stirn zu bieten. "Es gibt kein unabhängiges Polen ohne eine unabhängige Ukraine", zitierte Selenskyj nach seiner Ankunft in Warschau den polnischen Exil-Schriftsteller und Publizisten Jerzy Giedroyc.
"Selenskyj wollte sich bei Polen für die bisherige Hilfe bedanken und gleichzeitig den Westen daran erinnern, dass sein Land weiterhin Unterstützung braucht", sagte Slawomir Debski, Chef des Polnischen Instituts für Internationale Beziehungen (PISM), im Fernsehsender TVN.
Dank an Polen
Höhepunkt des eintägigen Besuchs war das Treffen von Selenskyj und seinem polnischen Amtskollegen Andrzej Duda mit Polen und Ukrainern am Mittwochabend im Königsschloss in Warschau. "Russland wird niemals siegen, wenn ein Pole und ein Ukrainer Schulter an Schulter stehen", sagte Selenskyj. "Wir stehen zusammen in diesem Krieg und werden uns gemeinsam über den Frieden freuen. Schulter an Schulter, gemeinsam in der EU und in der NATO." Seine Rede im Hof des Schlosses wurde immer wieder von Beifall unterbrochen.
Selenskyj bedankte sich auch bei den polnischen Städten und Gemeinden für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge. "Ich danke dafür, dass ukrainische Kinder in Polen lernen können und dafür, dass ukrainische Erwachsene gleiche Rechte wie Polens Staatsbürger bekommen haben", sagte er. Seit dem Kriegsausbruch sind fast elf Millionen Menschen mit ukrainischem Pass nach Polen eingereist. Mehr als eine Million blieben für länger in Polen.
Duda sicherte der Ukraine weiteren Beistand und Waffenlieferungen zu. "Die Ukraine vereidigt sich seit mehr als 400 Tagen und wir haben Wort gehalten: Auf Polen kann man sich immer verlassen", sagte er. An Selenskyj richtete er die Worte: "Du bist ein Held der freien Welt, aber für uns bist du vor allem ein großer Freund Polens."
Vergangenheit kein Tabu-Thema
Auch die schwierigen Kapitel der polnisch-ukrainischen Geschichte kamen bei Selenskyjs Besuch in Warschau zur Sprache. Andrzej Duda sagte dazu: "Die Besatzer haben oft versucht, Polen und Ukrainer gegeneinander aufzubringen, nach der Devise 'Teile und herrsche'. Heute versuchen sie es wieder. Deshalb senden wir ein klares Signal an Moskau, an den Kreml: Ihr schafft es nicht, uns zu entzweien und zu spalten, nie wieder." Wolodymyr Selenskyj schlug vor, dass Historiker gemeinsam die schwierigen Themen aus der Vergangenheit untersuchen sollten.
Vor allem um die blutigen Ereignisse in den 1940er Jahren streiten Historiker aus beiden Ländern seit Jahrzehnten. Im März 1943 griffen ukrainische Nationalisten in Wolhynien - einem Gebiet, das bis 1939 zum polnischen Staat gehörte, aber von den Ukrainern beansprucht wurde - die dort lebenden polnischen Familien mit Waffen an. Ziel war ihre Vertreibung oder Vernichtung, um nach dem Rückzug der Wehrmacht günstige Voraussetzungen für den ukrainischen Nationalstaat zu schaffen.
Bei blutigen Kämpfen, die in Polen als "ethnische Säuberung" gelten, starben nach polnischen Angaben 100.000 Polen. Bei den polnischen Vergeltungsaktionen gab es 20.000 Opfer auf der ukrainischen Seite. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der durch die Sowjetunion erzwungenen Verschiebung der Grenzen gingen die Auseinandersetzungen in Südostpolen weiter. Weil die Streitkräfte des kommunistischen Polens mit den ukrainischen Aufständischen nicht fertig werden konnten, wurden im Frühjahr 1947 während der sogenannten "Aktion Weichsel" alle ukrainischen Familien mit Gewalt nach Nord- und Westpolen vertrieben. Um ihre Rückkehr zu verhindern, wurden ihre Dörfer und Kirchen zerstört.
Polnische Waffen für Kiew
Polens Staatsoberhaupt versprach erneut die Fortsetzung der Waffenlieferungen an die Ukraine. Nach einem Vier-Augen-Gespräch mit Selenskyj am Vormittag gab Duda bekannt, dass Polen bereits acht MIG-29 an Kiew geliefert hat. Sechs weitere Kampfflugzeuge sowjetischer Bauart werden für die Übergabe vorbereitet.
In Anwesenheit beider Präsidenten wurden Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Herstellung von Munition sowie über die Lieferung von 100 gepanzerten Fahrzeugen vom Typ Rosomak unterzeichnet. Duda kündigte an, dass Polen beim NATO-Gipfel in diesem Sommer in Litauen um "zusätzliche Sicherheitsgarantien" für die Ukraine werben werde - als "Vorstufe zur Vollmitgliedschaft" im Nordatlantischen Bündnis, wie er betonte.
Polnische Firmen kämpfen um ukrainischen Markt
Thema bei den Gesprächen war auch die Beteiligung polnischer Firmen am Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg. Am deutlichsten formulierte die polnischen Erwartungen der Regierungschef Mateusz Morawiecki. "Polen hat als erstes Land vor Russland gewarnt und der Ukraine Hilfe geleistet. Deshalb will sich Polen als erstes Land am Prozess des Wiederaufbaus beteiligen", sagte Morawiecki. Hunderte polnische Firmen stünden bereit, so der Regierungschef.
Selenskyj sagte seinerseits, die Ukraine lade polnische Firmen ein. Man wolle, dass sie "eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau des Landes spielen". Ein während des Besuchs unterzeichnetes Memorandum soll polnischen Firmen eine privilegierte Stellung sichern.
Streit um ukrainisches Getreide
Trotz aller Freundschaftsbekundungen sind die polnisch-ukrainischen Beziehungen nicht frei von Konflikten. Seit Wochen sorgt ein Streit um ukrainisches Getreide für Aufregung. Wegen der russischen Blockade ukrainischer Schwarz-Meer-Häfen werden Getreidelieferungen, vor allem Weizen und Mais, über Polens Ostsee-Häfen in die Welt ausgeführt. Dabei gelangte jedoch ein Teil der Transporte in polnischen Getreidelager, was zu einem dramatischen Preissturz führte.
Die polnische Regierung reagierte erst, als wütende Landwirte mit Straßenblockaden den Verkehr lahmlegten. Weil die Proteste trotz der Unterzeichnung einer Vereinbarung mit den Landwirtschaftsverbänden andauerten, trat am Mittwoch (5.04.2023) Landwirtschaftsminister Henryk Kowalczyk zurück. "Wir haben eine Lösung für die Landwirte gefunden", sagte Selenskyj dazu nach einem Gespräch mit Morawiecki. Details nannte er nicht.
Die polnischen Kommentatoren warnen, dass solche Interessenkonflikte, wenn sie nicht schnell entschärft werden, leicht zum Wahlkampfthema werden und die Beziehungen zur Ukraine belasten könnten. Im Herbst wird in Polen ein neues Parlament gewählt.