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PolitikPolen

"Selenskyj wird sich bei Polen bedanken"

Jacek Lepiarz Warschau
5. April 2023

Polnische Spitzenpolitiker gehören seit Kriegsausbruch zu Stammgästen in der Ukraine. Nun kommt der ukrainische Präsident Selenskyj nach Warschau, um sich für die Hilfe zu bedanken. Es gibt aber auch Streitthemen.

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Der polnische Präsident Duda begrüßt seinen ukrainischen Amtskollegen Selenkyj am Flughafen von Rzeszow-Jasionka in Polen mit einer Umarmung
Bild: Jakub Szymczuk/KPRP/REUTERS

Bisher machte Präsident Wolodymyr Selenskyj in Polen nur Station, wenn er auf der Durchreise in westliche Hauptstädte war: nach Washington, London, Paris oder Brüssel. An diesem Mittwoch ist er - begleitet von seiner Frau Olena - zu seinem ersten offiziellen Besuch in Polen seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 eingetroffen. Und wie vor anderthalb Monaten US-Präsident Joe Biden wird auch er sich vor dem Königsschloss in Warschau mit polnischen Bürgern treffen. "Selenskyj wird sich bei Polen bedanken" - titelten am Dienstag die regierungsnahen und oppositionellen polnischen Zeitungen in seltener Übereinstimmung.

Starke Symbolik

"Dieser Besuch wird zwei Ebenen haben: eine symbolische und eine praktische", sagte der polnische Außenpolitiker Pawel Kowal von der oppositionellen Bürgerkoalition im Interview mit der Gazeta Wyborcza. Dabei sei die symbolische Dimension sehr wichtig. "Ein Jahr ist seit jenem Ereignis vergangen, das ich als humanitären Aufstand bei uns in Polen bezeichne. Das war die außergewöhnliche, das ganze Land umfassende Hilfsaktion für die Ukraine und die Ukrainer", so der ehemalige Außenminister. Diese Hilfsbereitschaft sei extrem wichtig gewesen und Präsident Selenskyj wolle sich dafür bedanken. "Wir können darauf echt stolz sein, weil diese Hilfe historisch einmalig ist."

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und sein polnischer Amtskollegen Andrej Duda sitzen sich an einem niedrigen Couchtisch in Rzeszow in Polen am 22.12.2022 gegenüber
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (l.) und sein polnischer Kollege Andrzej Duda in Rzeszow am 22.12.2022Bild: Ukrainian Presidential Press Service/REUTERS

In der Tat hat Polens Hilfe für das Nachbarland ein in der Geschichte des Landes unbekanntes Ausmaß erreicht. Wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft im Februar dieses Jahres bekanntgab, beliefen sich Polens Hilfsleistungen insgesamt auf 3,6 Milliarden Euro. Damit lag Polen hinter den USA (73,1 Mrd. Euro), der EU (29,9 Mrd. Euro), Großbritannien (8,3 Mrd. Euro) und Deutschland (6,1 Mrd. Euro) an fünfter Stelle der Geber. Bei der Militärhilfe liegen nur die USA und Großbritannien vor Polen (2,4 Mrd. Euro).

Offene Arme für Ukrainer

Seit dem ersten Tag des russischen Angriffs öffnete Polen seine Staatsgrenze für die ukrainischen Flüchtlinge. Nach Angaben des Grenzschutzes sind in den vergangenen 13 Monaten fast elf Millionen Menschen mit ukrainischem Pass, vor allem Frauen und Kinder, ins westliche Nachbarland eingereist. Mehr als neun Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer kehrten in diesem Zeitraum in ihre Heimat zurück.

Flüchtlinge liegen und sitzen in einer Notunterkunft im polnischen Grenzort Przemysl auf Feldbetten, die mit bunten Wolldecken bedeckt sind.
Notunterkunft für ankommende Flüchtlinge aus der Ukraine im polnischen Grenzort PrzemyslBild: Nicolas Economou/NurPhoto/picture alliance

Flüchtlinge, die in Polen blieben, bekamen Schutz und die gleichen Sozialleistungen wie polnische Staatsbürger. Die meisten der Geflüchteten kamen bei polnischen Familien oder bei ihren ukrainischen Bekannten in Polen unter. Für die polnische Zivilgesellschaft war dies eine enorme Herausforderung, die sie mit Bravour meisterte.

Politischer Beistand aus Warschau

Besonders wichtig für die Ukraine war auch die politische Unterstützung Warschaus. Drei Wochen nach Kriegsausbruch reiste der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki mit seinen Amtskollegen aus Tschechien und der Slowakei nach Kiew. Und Präsident Andrzej Duda besuchte mit den Staatsoberhäuptern der baltischen Staaten im April 2022 die befreiten ukrainischen Städte, darunter Butscha - der Ort, an dem die ersten russischen Kriegsverbrechen dokumentiert wurden. Insgesamt besuchte Duda im ersten Kriegsjahr viermal das Nachbarland.

Der polnische Präsident Duda schreitet neben dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj über den Verfassungs-Platz in Kiew im August 2022.
Der polnische Präsident Duda besucht Kiew im August 2022Bild: Ruslan Kaniuka/Ukrinform/ABACA/picture alliance

Warschau schickte auch seine T-72-Panzer aus sowjetischer Produktion in die Ukraine und übte Druck auf Berlin und andere westliche Hauptstädte aus, damit auch sie schneller Waffen an das bedrängte Land liefern. Eine ähnliche Rolle spielte Polen bei der Entscheidung, MIG-29-Kampfflugzeuge zu schicken. Der Flughafen Jasionka bei Rzeszow in Südostpolen wurde zum zentralen Umschlagplatz für Waffentransporte in die Ukraine.

Obwohl die pro-ukrainische Stimmung in Polen ungebrochen anhält und die Kritik des polnischen Engagements für die Ukraine eine Domäne der extremen Rechten bleibt, sind die polnisch-ukrainischen Bziehungen nicht ganz frei von Problemen, die auch eskalieren könnten.

Getreide aus der Ukraine ärgert polnische Landwirte

Das jüngste Beispiel, das seit einigen Wochen für große Aufregung sorgt, ist das ukrainische Getreide. Wegen der russischen Blockade ukrainischer Schwarz-Meer-Häfen sollten Getreidelieferungen, vor allem Weizen und Mais, über Polens Ostsee-Häfen in die Welt ausgeführt werden. Dabei gelangte jedoch ein Teil der Transporte in die polnischen Lager, was zu einem dramatischen Preissturz führte.

Die polnische Regierung reagierte erst, als wütende Landwirte mit Straßenblockaden den Verkehr lahmlegten. Vor wenigen Tagen wurde eine Vereinbarung mit den Landwirtschaftsverbänden unterzeichnet, doch die Proteste dauern an. Am Dienstag (04.04.2023) kündigte Premier Morawiecki an, dass er mit Selenskyj über den Transit ukrainischer Lebensmittel sprechen werde.

Ukraine: Thema im Wahlkampf?

Etwa eine Million Ukrainer haben in Polen eine neue Heimat gefunden. Viele von ihnen arbeiten oder studieren. Bereits vor dem Ausbruch des Krieges gab es in Polen hunderttausende ukrainische Arbeiter. "Ihre Anwesenheit kann zum Thema des Wahlkampfs werden, besonders dann, wenn sich die Wirtschaftslage in Polen weiter verschlechtert", warnt die Zeitung Rzeczpospolita. In der nationalistisch-rechten Presse heißt es immer wieder: "Das ist nicht unser Krieg."

Laut Außenpolitiker Kowal ist die Zeit reif für einen polnisch-ukrainischen Vertrag nach dem Vorbild des Elysee-Vertrags zwischen Deutschland und Frankreich von 1963. Es gehe um eine feste Struktur der Zusammenarbeit zwischen beiden Regierungen und Staaten und um den Jugendaustausch. Polen sollte im Verhältnis zur Ukraine mehr beanspruchen als bloß die Rolle eines Transit- und Militär-Hubs.

Schwierige Geschichte

Über beiden Ländern hängt die schwierige Vergangenheit wie ein Damoklesschwert. Nach dem Kriegsausbruch traten die heiklen Themen in den Hintergrund, sie sind aber keinesfalls in Vergessenheit geraten.

Im März 1943 griffen die ukrainischen Nationalisten in Wolhynien - einem Gebiet, das bis 1939 zum polnischen Staat gehörte, aber von den Ukrainern beansprucht wurde - die dort lebenden polnischen Familien mit Waffen an. Das Ziel war ihre Vertreibung oder Vernichtung, um nach dem Rückzug der Wehrmacht günstige Voraussetzungen für den ukrainischen Nationalstaat zu schaffen.

Menschen halten am 11. Juli 2013  polnische Fahnen und Kreuze hoch zum Gedenken an den Massaker von Wolhynien vor 70 Jahren
Gedenken am 70. Jahrestag des Massakers von Wolhynien am 11. Juli 2013 in Warschau Bild: Tomasz Gzell/dpa/picture alliance

Bei blutigen Kämpfen, die in Polen als "ethnische Säuberung" gelten, starben nach polnischen Angaben 100.000 Polen. Bei den polnischen Vergeltungsaktionen gab es 20.000 Opfer auf der ukrainischen Seite. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der durch die Sowjetunion erzwungenen Verschiebung der Grenzen ging die Auseinandersetzung in Bieszczady in Südostpolen weiter.

Weil die Streitkräfte des kommunistischen Polens mit den ukrainischen Aufständischen nicht fertig werden konnten, wurden im Frühjahr 1947 während der sogenannten "Aktion Weichsel" alle ukrainischen Familien mit Gewalt nach Nord- und Westpolen vertrieben. Um ihre Rückkehr zu verhindern, wurden ihre Dörfer und Kirchen zerstört. Bis heute ist der nationalistische ukrainische Anführer Stepan Bandera ein Zankapfel zwischen den Nachbarn. Viele Ukrainer halten ihn für einen Helden, der für die freie Ukraine kämpfte. In Polen dagegen macht man ihn verantwortlich für Verbrechen an der polnischen Bevölkerung.

"Ich glaube, dass Selenskyj in dieser Angelegenheit eine Geste zeigen wird", sagt Oppositionspolitiker Pawel Kowal. Die Reduzierung der polnisch-ukrainischen Beziehungen auf die Geschichte hält der Historiker allerdings für einen Fehler. Bandera ist seiner Meinung nach kein Bezugspunkt mehr für die Ukrainer. "Die echten Helden sind heute die Verteidiger von Mariupol oder Bachmut", urteilt Kowal.

Porträt eines Mannes mit grauem Haar vor einem Regal mit Büchern
Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.