Ihr solltet Euch schämen!
11. Oktober 2019Mist! Mitten in der wichtigen Konferenz merke ich, dass ich in einen Hundehaufen getreten bin. Alle schauen mich an. Die kleine Nichte weint, weil ich beim Familienfest versehentlich ihr Spielzeug kaputt getrampelt habe. Erst im Aufzug-Spiegel merke ich, dass ich vermutlich die ganze Zeit mit diesem Schokoladenfleck auf der Oberlippe rumgelaufen bin. Peinlich Momente.
Ich schäme mich. Eigentlich wäre ich jetzt am liebsten unsichtbar, aber stattdessen werde ich knallrot, meine Scham ist für alle sichtbar. Ich schäme mich noch mehr. Mein Herzschlag wird schneller, verlegen senke ich den Kopf.
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Solche vegetativen und körpersprachlichen Reaktionen sind typisch für das Schamgefühl. "Scham ist eigentlich ein Gefühl wie jedes andere Gefühl. Es regelt ganz spontan die Beziehungen zu anderen Menschen. Ganz wesentlich ist, dass wir eine natürliche Scham haben, die uns vor Peinlichkeit schützt, die uns davor schützt, die Intimität preiszugeben, unsere Grenzen überschreiten zu lassen", erläutert der Körper-Therapeut Dr. Udo Baer, der das Buch "Vom Schämen und Beschämtwerden" geschrieben hat.
Scham schützt das Zusammenleben
Die Scham hat eine soziale Schutzfunktion. Sie schützt den Beschämten davor, sein Ansehen in der Gruppe zu verlieren, aus der Gruppe ausgestoßen zu werden. Scham oder Peinlichkeit ist eine schmerzliche Erfahrung, entsprechend steckt das Wort "Pein", also der Schmerz in "Peinlichkeit."
Regelverstöße verursachen ein peinliches, ein schmerzliches Gefühl, das wir lieber vermeiden, in dem wir uns an die Normen halten. Die Scham ist bereits eine Art Strafe und gleichzeitig Antrieb, die Regeln oder Normen zu achten. Die Gruppe entscheidet, ob die Scham als Bestrafung reicht. So schützt die Scham evolutionär das Zusammenleben und letztendlich auch das Überleben des Einzelnen.
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Das lebenswichtige Gefühl der Scham ist ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Zwar gibt es auch bei Tieren ähnliche Verhaltensformen, das Absenden oder Abwenden des Blickes, eine rötliche Färbung der Haut. Aber dies sind Anzeichen der Unterwürfigkeit, sie regeln die soziale Hierarchie innerhalb der Gruppe.
Auch Menschen müssen ein Schamgefühl erst lernen. Andere Emotionen wie Freude, Angst oder Wut beherrschen wir schon von Geburt an, das Schamgefühl aber entwickelt ein Kleinkind erst mit etwa zwei Jahren, wenn sich beim Kind eine Art Bewusstsein entwickelt.
Universelle Scham, kulturelle Prägung
Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe stellt in vielen Kulturen einen zentralen Wert da. Da verschiedene Gruppen und Kulturen über ganz unterschiedliche Normen verfügen, unterscheiden sich auch die Schamgrenzen ganz grundlegend.
Lautes Schmatzen etwa empfinden z.B. Westler als beschämend, in anderen Kulturen oder auch in früheren Zeiten gehörte das laute Schmatzen dagegen zum guten Ton. Sich in der Bahn zu küssen oder zu schminken wirkt heutzutage nur noch wenig beschämend. Anders empfinden wir es, wenn sich jemand an gleicher Stelle die Fußnägel schneiden oder laut rülpsen würde.
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In dem einen Kulturkreis signalisieren leer gegessene Teller, dass es einem gut geschmeckt hat. In einem anderen Kontext werden sie als peinliche Verfressenheit oder Gier verstanden. Geschenke öffnen Briten nicht gerne in Gegenwart anderer, um eine wohlmögliche peinliche Reaktion zu vermeiden. Chinesen dagegen lassen sogar das Preisschild dran, um dem Beschenkten zu zeigen, wie viel er jemandem wert ist. Das wäre in anderen Kulturkreisen sehr beschämend.
Ein Schamgefühl an sich ist universell, "genauso wie die Angst bei allen Menschen da ist, oder die Sehnsucht oder die Liebe. Aber wie sich Scham zeigt und an welchen Situationen sie sich festmacht, das ist kulturell geprägt", so Therapeut Baer.
Konflikte durch fehlende Scham
Wenn die Scham doch so eine wichtige Schutzfunktion hat, warum verhalten sich dann so viele schamlos? Tatsächlich wird die Schamgrenze in der Öffentlichkeit immer häufiger und bewusster überschritten.
Fehlt die Scham, verhält sich jemand bewusst schamlos, dann missachtet er die sozialen Regeln oder Erwartungen. Seine Schamlosigkeit verletzt die Intimsphäre anderer und vermittelt ein Gefühl der Beschämung, der Verlegenheit, Bloßstellung oder Ehrverletzung. Es drohen unmittelbar Konflikte oder Ausgrenzung.
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Durch scham-loses Verhalten grenzt man sich bewusst ab oder aus, man provoziert Reaktionen. Bleiben diese Reaktionen aus und erzeugt die Schamlosigkeit bei einem selber kein Gefühl der Peinlichkeit, wird das unver-schäm-te Verhalten nicht bestraft. Ebenso wenig wird die Ausgrenzung als Strafe empfunden.
Sinkende Schamschwelle
Viele klagen über eine zunehmende Schamlosigkeit, aber schamloses Verhalten - auch in der Öffentlichkeit - ist nicht neu. Neu ist dagegen, wie die Medien die Schamlosigkeit transportieren.
Peinliche Auftritte von talentfreien oder ungeeigneten Kandidaten in Casting-Shows, vernichtende Urteile von Jury-Mitgliedern vor einem Millionenpublikum, unverschämte Auftritte in Talkshows. Das Hochladen peinlicher oder schamloser Bilder und Videos, die vollständige Preisgabe der Intimsphäre im Internet – all das überschreitet Grenzen und senkt die Schamschwelle dramatisch.
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"Es gibt die Tendenz, dass die Grenzen, dass die Scham als Wächter der Intimität nutzlos und lächerlich gemacht werden, indem Menschen bloßgestellt werden", so Dr. Baer. "Da werden Schamgrenzen überschritten, die plötzlich alltäglich werden. Das ist schlecht und darunter leidet auch bei manchen Menschen die natürliche Scham. Sie können das gar nicht mehr unterscheiden, weil sich die natürliche Scham und die Beschämung so ähnlich anfühlt", so der Körper-Therapeut und Autor.
Fremdschämen tut weh
Nicht nur Lachen, sondern auch Weinen und Schämen wirken "ansteckend". Beobachten wir einen Menschen bei einer Handlung, lösen Spiegelneuronen als Basis der intuitiven Empathie die gleichen Impulse aus, wie wenn wir selber die Handlung vornehmen würden.
Peinliches oder schamloses Verhalten in der Öffentlichkeit bewirkt bei vielen Betrachtern deshalb ein Fremdschämen, das fast schon weh tut. Forscher der Uni Marburg haben sogar nachgewiesen,
dass beim Fremdschämen die gleichen Hirnareale aktiviert werden wie beim Mitleid für körperliche Schmerzen anderer.
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"Das Mitgefühl, die Fähigkeit den Schmerz anderer zu spüren, ist zivilisatorisch wertvoll, weil es die Gewaltschwelle hemmt, weil es die Verletzungsschwelle verringert, weil es ein Boden dafür ist, dass wenn wir den Schmerz anderer würdigen können, auch unseren Schmerz würdigen können, und ein Zusammenleben auf Augenhöhe versuchen können", erläutert Baer.
"Wenn ich den Schmerz anderer nicht mehr fühlen kann, dann werde ich roh. Dann habe ich keine Grenze mehr, andere zu verletzen." Eine solche Verrohung zeige sich laut Baer etwa, wenn z.B. jemand Jugendliche in der U-Bahn bittet, die Zigaretten auszumachen, die Jugendlichen aber sofort zuschlagen und dann nur noch den Kick haben, das zu filmen oder sich damit zu brüsten."
Wie viel Schamlosigkeit lasse ich zu?
Zwar sinkt die Schamschwelle und die Gesellschaft wird unverschämter, aber das natürliche Schamgefühl kann helfen, die eigene Intimität oder Privatsphäre zu schützen. "Es gibt den Druck, Du musst Dich zeigen, Du musst alles preisgeben, im Internet, im Freundeskreis, bei Chat-Gruppen und so weiter. Auf der anderen Seite gibt es diese Gegenbewegung: Ach, komm lass mich mal in Ruhe! Ich brauche auch meinen persönlichen Raum, mein intimes Feld."
Die natürliche Scham setzt bewusst Grenzen. Wer das Schamgefühl kennt und selber einer Beschämung ausgesetzt war, kann der öffentlichen Zurschaustellung der Schamlosigkeit nichts abgewinnen.
"Es gibt viele Menschen, die wollen gar nicht mehr Fernsehen oder sonst was schauen, weil die sich sofort schämen und weil sie sich durch diese Beschämungs-Bilder und -Situationen auch sofort angegriffen fühlen," sagt der Buch-Autor Baer. "Das sind vor allem dieselben, die auch unter Beschämung und Vorgeführt-werden leiden oder gelitten haben, in der Schule, in der Partnerschaft, im Beruf, wo auch immer."
Leben mit der Scham
Auch wenn sich die Schamgrenzen verschieben, das natürliche Schamgefühl bleibt. Wir schämen uns, wenn wir Normen nicht einhalten oder auch, wenn wir Erwartungen nicht erfüllen – die der Anderen oder auch die eigenen. Die Scham entspringt oftmals der teilweise unbewussten Angst, Erwartungen nicht zu entsprechen.
Vor allem bei Frauen habe sich die Scham zu einer "sozialen Epidemie" entwickelt, meint Sozialpsychologin Dr. Brené Brown von der University of Houston. Grund für die Scham sei die Angst, nicht schön oder sexy genug zu sein, nicht die perfekte Mutter zu sein, nicht den hohen Erwartungen zu entsprechen.
Therapeut Dr. Baer sieht die Scham aber nicht als frauenspezifisches Thema. In seiner 30-jährigen Tätigkeit als Therapeut habe er "keinen Mann kennengelernt, der nicht auch massive Beschämungserfahrungen hat." Männer zeigen das oft nicht so, weil sie stark sein müssen oder glauben, dass sie stark sein müssen. "Aber wenn man ein bisschen an der Oberfläche kratzt, kommen diese Beschämungserfahrungen sehr deutlich zum Vorschein. Ich glaube, dass Frauen ein bisschen gesünder damit umgehen und ihre Scham auch zeigen."