Schwierige Bilanz des Afghanistan-Einsatzes
6. Oktober 202159 Bundeswehrsoldaten kamen in Afghanistan ums Leben, zahlreiche weitere wurden verletzt und traumatisiert. Am Ende des rund 20jährigen Einsatzes am Hindukusch, der Deutschland 17,3 Milliarden Euro kostete, stand ein überstürzter Abzug und die erneute Machtergreifung der radikal-islamischen Taliban. Viele deutsche Bürger fragen sich seitdem, war es das wert? Antworten auf diese und ähnliche Fragen sollte an diesem Mittwoch eine viereinhalbstündige Veranstaltung liefern, zu der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) eingeladen hatte. Titel: "20 Jahre Afghanistan - Startschuss für eine Bilanzdebatte".
Außenminister und Parlamentarier sagten ab
Doch der "Startschuss" drohte bereits im Vorfeld zum Rohrkrepierer zu werden. Verteidigungspolitiker mehrerer Bundestagsfraktion wollten an der Debatte nicht teilnehmen. Ein so wichtiges Thema wie die Aufarbeitung von 20 Jahren Engagement in Afghanistan kurz nach der Bundestagswahl und mitten in der Sondierungsphase für eine neue Regierung zu beginnen sei deplatziert, hieß es. Am Dienstag sagte dann auch Außenminister Heiko Maas (SPD) ab. Eine Veranstaltung ohne breite Rückendeckung durch das Parlament, das die Auslandseinsätze der Bundeswehr mandatieren muss, soll nach Medienberichten für Maas keinen Sinn ergeben haben.
Ursprünglich war die kritische Bilanzdebatte für Ende August geplant. Wegen der laufenden Evakuierungsmission der Bundeswehr nach der Machtübernahme der Taliban wurde sie abgesagt. Dass Kramp-Karrenbauer die Konferenz auf einen Termin kurz nach der Bundestagswahl verlegte, sorgte schnell für Kritik aus dem Parlament. Trotzdem hielt die Verteidigungsministerin an ihrem Zeitplan fest. Offenbar hatte sie die Gefahr unterschätzt, dass der Auftakt der Bilanzdebatte vom politischen Wahl-Nachbeben verschüttet werden könnte.
Afghanistan-Mission veränderte die Bundeswehr
In ihrer Begrüßungsrede gab sich Kramp-Karrenbauer von der Absagen-Schlappe unbeirrt. Es sei ihr wichtig gewesen, "dass wir die Debatte heute starten", sagte sie. Das Verteidigungsministerium wolle sich nicht dem Verdacht aussetzen, mit dem für Mittwoch kommender Woche geplanten Großen Zapfenstreich "eine besonders glanzvolle Decke über den Afghanistan-Einsatz" zu legen, um dadurch eine ehrliche Debatte zu verhindern. Mit der feierlichen, abendlichen Militärzeremonie am 13. Oktober sollen die Verdienste der Soldatinnen und Soldaten gewürdigt werden, die in Afghanistan im Einsatz waren.
Kramp-Karrenbauer betonte, dass "Afghanistan die politischen und die gesellschaftlichen Debatten in diesem Land verändert" habe. Auch die Bundeswehr sei eine andere als vor 20 Jahren. Ihr sei man eine "ehrliche, offene und auch schmerzliche Debatte schuldig". An der hybrid geführten Konferenz - einer Mischung aus Reden, Diskussionen, Video-Schalten sowie Live-Streaming und Diskussionen vor Publikum im Verteidigungsministerium - nahmen Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bundeswehrangehörige, Journalisten sowie Vertreter der Zivilgesellschaft und verteidigungspolitische Experten teil.
NATO-Chef Stoltenberg rechtfertigt Abzug
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verteidigte in seinem Grußwort per Video-Schalte den Abzug aus Afghanistan. "Aber niemand hat mit einem so schnellen Zusammenbruch der politischen und militärischen Führung Afghanistans gerechnet." Es sei nun Zeit für die Aufarbeitung, welche die Nato bis Ende des Jahres abgeschlossen haben will. Er begrüße es, "dass die deutsche Regierung heute mit der Auswertung ihrer Erfahrungen beginnt".
Die Afghanistan-Intervention gilt in Deutschland als gravierender Einschnitt in der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Niemals zuvor war die Bundesrepublik in vergleichbarem Ausmaß an einem Einsatz beteiligt, der zugleich die Ziele Terrorbekämpfung und Staatsaufbau verfolgte. 93.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr waren am Hindukusch im Einsatz. Wohl auch vor dem Hintergrund der Schwere ihrer Aufgabe kritisierte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, dass bereits vor Beginn der Aufarbeitung ein Urteil gefällt worden sei. Der Einsatz werde medial vor allem als "Desaster" bezeichnet.
Generalinspekteur beklagt geringe öffentliche Unterstützung
Der ranghöchste Soldat und militärische Berater der Bundesregierung erklärte, für den Afghanistan-Einsatz habe es in der deutschen Öffentlichkeit zu keinem Zeitpunkt große Unterstützung gegeben. Es sei nun an der Zeit zu überlegen, wie man künftig über derartige Einsätze informiere. Zorn forderte, den Afghanistan-Einsatz "nicht auf das Ende zu verengen". Die rasche Machtübernahme der Taliban beweise nicht, "dass westliche Militärinterventionen in Konfliktregionen generell zum Scheitern verurteilt sind".
Der Generalinspekteur betonte, es sei mit Blick auf aktuelle und mögliche künftige Auslandseinsätze dringend notwendig zu fragen: "Wieso hat uns die Lageentwicklung am Ende derart überraschen können?" Das Militär habe in Afghanistan einen Sicherheitsrahmen geschaffen. Dieser sei aber nicht für eine politische Stabilisierung genutzt worden.
Auch in Bezug auf den gefährlichen Einsatz in Mali sagte Generalarzt Ralf Hoffmann, die mit dem jeweiligen Einsatz verfolgten Ziele müssten regelmäßig überprüft werden. Dazu gehöre auch die Frage: "Haben wir die richtigen Mittel dafür eingesetzt?" Genau das wünschen sich viele Soldaten, meint Hoffmann, der sich als Beauftragter des Verteidigungsministeriums um im Einsatz traumatisierte Menschen kümmert. In der Sahel-Region kämpfen malische, französische und andere europäische Streitkräfte sowie UN-Friedenstruppen seit langem gegen Aufständische, die mit dem sogenannten Islamischen Staat und Al-Kaida in Verbindung stehen.
Mangelnde Zusammenarbeit zwischen den Ministerien?
Mit Blick auf künftige Aufgaben sieht Prof. Christopher Daase vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung vor allem Nachholbedarf in der Teamarbeit innerhalb der Bundesregierung. Im Gespräch mit der DW sagt der Forscher, in Stabilisierungseinsätzen, die wie in Afghanistan in eine Guerilla-Kriegsführung übergehen, sei Aufstandsbekämpfung notwendig.
"Dafür braucht es vor allem die Zusammenarbeit militärischer und ziviler Stellen. Deshalb hat die Bundesregierung den sogenannten vernetzten Ansatz entwickelt, der sicherstellen soll, dass diese Zusammenarbeit zwischen dem Verteidigungs-, Außen- und Entwicklungsministerium sowie zivilen und militärischen Akteuren funktioniert. Aber genau daran hat es gefehlt", erklärt Daase. Die Absage von Außenminister Maas habe insofern vielleicht noch einmal gezeigt, "dass es um die Kooperation zwischen Verteidigungsministerium und Außenministerium nicht zum Besten steht".
Die Nagelprobe steht noch bevor
In ihrem Schlusswort unterstrich Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer die Bedeutung des vernetzten Ansatzes für die Bundeswehr. Und: Die Bilanzierung sei noch lange nicht beendet.
Zu lange Zeit soll man sich dafür aber nicht lassen, glaubt die Verteidigungsministerin: "Die Nagelprobe, ob wir diese Lektion gelernt haben, wird sehr schnell auf uns zukommen." Das gelte vor allem für den Mali-Einsatz. "Denn dort müssen wir die Sinnfrage beantworten. Dort müssen wir die Ziele entsprechend definieren. Und dort müssen wir festlegen, mit welchen Mitteln wir unsere Bundeswehr in Zukunft auch in den Einsatz schicken wollen."