Die Ohnmacht der Afghanistan-Veteranen
29. August 2021Für Jenni Bruns waren die Bilder vom Einmarsch der Taliban in Kabul schwer zu ertragen. "Es geht mir gar nicht gut", erzählt die Soldatin am Telefon. 2010 war sie in Afghanistan im Einsatz. In einem Außenposten im Norden des Landes kümmerte sie sich um die Wasseraufbereitung. Dort erlebte sie Angriffe der Taliban, erlebte, wie Kameraden verwundet wurden oder starben. Zurück in Deutschland erkrankte Jenni Bruns an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Seither leidet sie unter Alpträumen, Schlafstörungen, Angst- und Panikattacken. "Ich habe meine Gesundheit für diesen Einsatz geopfert."
Dass die Taliban nun anscheinend alles wieder zunichtemachen, was die internationalen Truppen erreicht hatten, belastet sie sehr. "Ich habe zurzeit mit einer enormen Zunahme von Flashbacks und Schlaflosigkeit zu kämpfen", erzählt die 36-Jährige. In Flashbacks reproduziert das Gehirn traumatische Erlebnisse. "Ich sehe häufig wieder viel Blut, spüre die Hitze, ich schmecke den Sand auf der Zunge", erzählt sie. "Ich hatte gerade eben Therapie, und da haben wir von einer Retraumatisierung gesprochen."
"Gewitter der Emotionen"
Mit dieser Erfahrung steht Jenni Bruns nicht allein da. "Das Scheitern der internationalen Militärmission wirft die Traumatisierten ganz weit zurück", sagt Bernhard Drescher. Er war als Soldat selbst dreimal im Auslandseinsatz auf dem Balkan. Heute leitet er den Bund Deutscher EinsatzVeteranen, der Einsatzgeschädigte berät und unterstützt.
Seit die Taliban Afghanistan im Eiltempo wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben, stehen die Telefone beim Veteranenverband nicht mehr still. Viele Anrufer sind fassungslos und wütend. "Die stellen jetzt die Sinnfrage: War alles umsonst?", berichtet Drescher. Viele der 160.000 deutschen Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz waren, erlebten derzeit "ein Gewitter der Emotionen".
Viele wollten einfach nur reden, mal Luft ablassen und fingen sich dann wieder, sagt Drescher. "Doch für jemanden, der traumatisiert ist, ist das sehr schlimm." Das Gefühl, dass alle persönlichen Opfer umsonst waren, könne mühsam erreichte Erfolge in der Therapie wieder zunichtemachen. Im Moment seien die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Verbandes "am Limit", weil so viele Anfragen hereinkämen. Dennoch würde niemand in einer seelischen Notlage allein gelassen. "Wenn es gewünscht wird, stehen unsere Ehrenamtlichen in spätestens 48 Stunden vor der Haustür, in großen Städten auch schneller."
Wut und Trauer
Auch Jenni Bruns hilft es, über ihre Gefühle zu reden und ihre Gedanken aufzuschreiben. Wenn sie sieht, was gerade in Afghanistan passiert, empfindet sie vor allem Wut. Der Abzug der internationalen Truppen sei "völlig übereilt" und "sehr unüberlegt" gewesen. "Dass die Taliban jetzt von Haus zu Haus gehen und die Häuser durchsuchen, das macht mich sprachlos, unendlich traurig und wütend."
Bruns denkt dabei auch an die Ortskräfte, die zurückgeblieben sind, an Frauen und Kinder. Während des 20-jährigen Einsatzes habe es an Weitsicht gefehlt. Und, wie die Soldatin es ausdrückt, an Nachhaltigkeit. Etwa bei der Ausbildung der afghanischen Armee, die den Taliban bei ihrem Vormarsch kaum Widerstand entgegensetzte. "Man möchte ja auch einen Sinn sehen in dem, was man getan hat. Und den sehe ich nicht mehr bezüglich dieses Einsatzes." Bruns denkt auch an die Familien all jener Kameraden, die ihr Leben verloren haben: "Natürlich stellt man sich die Frage: Sind 59 deutsche Soldaten umsonst in Afghanistan gefallen?"
Aufarbeitung verschoben
Diesen und anderen Fragen wollte sich das Verteidigungsministerium eigentlich noch im August stellen, man hatte Politiker, Fachleute und Soldatinnen und Soldaten zu einem Meinungsaustausch über den Afghanistan-Einsatz eingeladen. Zusätzlich sollte vor dem Reichstagsgebäude ein Großer Zapfenstreich abgehalten werden, ein feierlicher Abschlussappell des Afghanistan-Einsatzes. Jenni Bruns wäre dort Ehrengast gewesen. Doch wegen der sich überschlagenden Ereignisse in Kabul wurden beide Veranstaltungen abgesagt.
Dennoch dürfe die Aufarbeitung des Einsatzes nicht auf die lange Bank geschoben werden, mahnen Afghanistan-Veteraninnen und Veteranen. Sonst könnten sich die gleichen Fehler bei anderen Einsätzen wiederholen, etwa bei der gefährlichen Mali-Mission der Bundeswehr. Auch Jenni Bruns plädiert dafür, schonungslos Bilanz zu ziehen. Und falls das erst nach der Bundestagswahl im September passiere, sollten sich die jetzigen Verantwortlichen der Kritik trotzdem stellen. "Man sollte sich die nötige Zeit dafür nehmen, man sollte ehrlich sein und sich Fehler eingestehen."
Einsatz mit Langzeitfolgen
Dass der Afghanistan-Einsatz die deutsche Gesellschaft noch lange beschäftigen wird, glaubt auch der Bund Deutscher EinsatzVeteranen. Gerade seelische Verwundungen manifestierten sich oft erst viele Jahre nach einem Einsatz, betont der Verbandsvorsitzende Drescher. Dabei gehe es nicht nur um posttraumatische Belastungsstörungen, sondern um die gesamte Bandbreite psychischer Erkrankungen. Viele Betroffene seien zum Zeitpunkt der Diagnose gar nicht mehr bei der Bundeswehr und könnten folglich nicht auf Hilfsleistungen der Truppe zurückgreifen. "Die gehen definitiv in einen zweiten Krieg - in den Verwaltungskrieg um ihre Versorgung", glaubt Drescher.
Bundeswehr: "Nicht mehr Anrufe als sonst"
Laut dem Verteidigungsministerium wurde im Jahr 2020 bei gut 300 Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan waren, eine psychische Erkrankung neu diagnostiziert. Schon länger hat die Bundeswehr eine Trauma-Hotline geschaltet, bei der von PTBS Betroffene rund um die Uhr anrufen können. Zum jetzigen Zeitpunkt gingen dort nicht mehr Anrufe als üblich ein, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums der Deutschen Welle.
Der Bund Deutscher EinsatzVeteranen hat da andere Erfahrungen gemacht. Nach Einschätzung Dreschers ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Zahl der Hilfesuchenden steigen wird: "Nach unserer Beobachtung dauert es fünf bis sieben Jahre, bis die Leute um Hilfe bitten. Das heißt, da kommt aus dem Afghanistan-Einsatz noch eine Welle auf uns zu."
Mitarbeit: Esther Felden