Der Horror bei der Flucht aus Kabul
27. August 2021Ahmad R., Softwareentwickler aus Süddeutschland
Ich habe in Masar-i-Sharif in Nordafghanistan geheiratet. Wir wollten schon früher ausfliegen, aber alle Flüge wurden gecancelt. Dann habe ich uns bei ELEFAND angemeldet, dem Onlineportal des Auswärtigen Amtes (AA) für Bundesbürger in Krisengebieten. Vom AA bekam ich Anfang vergangener Woche eine Rückmeldung, dass wir uns zum Flughafen in Kabul begeben sollen. Dann haben wir uns von Masar-i-Sharif aus auf den Weg gemacht.
Am ersten Tag unserer Ankunft in der afghanischen Hauptstadt sind wir direkt zum Flughafen gegangen. Aber es war viel zu viel los. Riesige Menschenmengen, Soldaten, die Warnschüsse in die Luft abgaben. Wir trauten uns nicht, mit unseren Koffern weiter dort hineinzugehen.
Am nächsten Tag haben wir deshalb Rucksäcke mitgenommen. Ich hatte nur eine E-Mail vom Auswärtigen Amt bekommen, dass ich, wenn möglich, ans Nordtor des Flughafens kommen soll. Nur meine Firmensecurity hatte mir zurückgemeldet, dass sie jemanden im Flughafen kontaktiert hätten, der uns am Gate abholen soll. Doch die Straßen waren völlig verstopft. Wir mussten die letzten fünf oder sechs Kilometer laufen. Die Menge war so groß, da waren mehr als 10.000 Menschen. Alle haben gedrückt und geschoben. Meine Frau wurde von der Menge fast zu Boden gedrückt und fiel in Ohnmacht. Doch zum Glück hat ein Mann geholfen, sie an die Seite zu bringen. Es war unerträglich heiß, wir haben uns mit Wasser das Gesicht gewaschen und es uns über den Kopf laufen lassen.
Dann sind wir an einem anderen Gate gelandet, weil das Gedränge vor dem Nordtor zu groß war. Dort waren US-Amerikaner, aber sie schrien nur laut "Go away!" und drohten mit ihren Waffen. Nach mehreren Anläufen fand ich einen deutschen Soldaten. Ich fragte ihn, ob wir auch hier reinkönnten, weil das Nordtor so weit weg und meine Frau so schwach war, denn wir hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Der deutsche Soldat sagte: "OK, warten Sie kurz hier. Ich muss mit jemandem sprechen." Wir warteten, doch es kam niemand mehr. Um 20 Uhr abends haben wir es nicht mehr ausgehalten, im Gedränge, in der Hitze und ohne etwas zu essen.
Wir machten uns wieder auf den Heimweg und wurden dabei mit Tränengas beschossen. Zum Glück hatten wir Wasser zum Auswaschen dabei. Aber ich habe Frauen und Kinder gesehen, die einfach umfielen. Ich habe viele Verletzte gesehen, die angeschossen oder niedergetrampelt worden waren und Menschen mit blutunterlaufenen Augen vom Tränengas. Das Schlimmste, was wir erlebt haben, war dieses Tränengas.
Am nächsten Morgen war ich hoffnungslos. Niemand war gekommen, um uns zu helfen, obwohl ich alle Dokumente dabei hatte. Es gab keinerlei Informationen für uns. Nur, dass wir ans nördliche Gate gehen sollen. Ich habe überall angerufen, alle Nummern, die ich hatte. Auch internationale Hilfsnummern. Aber die konnten auch nichts machen. Ich wollte nicht mehr zurück zum Flughafen, aber meine Frau meinte, dass wir es weiter versuchen müssten.
Beim dritten Mal sind wir nach drei bis vier Stunden an ein anderes Eingangstor gelangt. Und da habe ich meine Papiere einem afghanischen Soldaten gezeigt. Er ließ uns endlich auf das Flughafengelände. Dort waren dann zum Glück auch Bundeswehrsoldaten, mit denen ich sprechen konnte. Ab diesem Punkt war es dann einfacher. Unsere Unterlagen haben uns geholfen, hinauszukommen. Am 21. August, samstagabends sind wir ausgeflogen. Um 19 Uhr ging unsere Maschine nach Taschkent und dann von dort der Weiterflug nach Frankfurt.
Ich bin froh, dass ich wieder in Deutschland bin. Aber die Lage meiner Familie in Afghanistan bleibt weiter unsicher. Ich mache mir vor allem Sorgen um meinen Vater, der dort eine Mädchenschule und einen Kindergarten betreibt. Und der Schock über diese Tage und darüber, was wir erlebt haben, sitzt noch immer tief.
Maryam K., Erzieherin aus Kassel
Ich bin mit einem Afghanen verheiratet, habe eine Tochter und bin im sechsten Monat schwanger. Wir haben seit Juli die Familie meines Mannes in Kabul besucht und wollten eigentlich am 24. August mit einer zivilen Maschine wieder zurück nach Deutschland. Diese Entwicklung hatte niemand erwartet: Die Taliban, hieß es, könnten Kabul niemals schon jetzt einnehmen. Doch dann ging alles so schnell. Quasi über Nacht waren sie da.
Wir haben uns dann auch direkt bei ELEFAND angemeldet. Am Montag Abend (23.08.2021) haben wir mit einem netten Herrn vom deutschen Auswärtigen Amt gesprochen, der uns beruhigte und registrierte. Er nahm auch unsere Kernfamilie mit auf, Schwiegermutter, Schwager und Schwägerin und glich dann auch deutsch korrekt alle Passnummern ab. Innerhalb der nächsten zwei Stunden sollten wir eine E-Mail bekommen - alles sehr bürokratisch korrekt, wie man es von uns Deutschen kennt. Darin sei eine PDF mit namentlich ausgestellten Tickets. Mit denen sollten wir dann an einen noch zu bestimmenden Treffpunkt in der Nähe des Flughafens kommen, wo wir dann abgeholt würden. Wir haben dann ganz schnell unsere Sachen gepackt, aber dann kam nichts mehr. Die Stunden vergingen: Es wurde 12 Uhr nachts, dann 1, dann 2… Bis 5 Uhr morgens waren wir wach. Es kam aber nichts.
Dienstag dasselbe. Am Mittwoch hat meine Schwester aus Deutschland noch mal versucht, das Auswärtige Amt in Berlin zu erreichen. Es war sehr schwer durchzukommen. Dann bekamen wir einen Rückruf von einer AA-Mitarbeiterin. Sie könne uns nichts Neues sagen, die Sicherheitslage würde neu abgewogen. Wir seien aber registriert, unsere Namen stünden auf jeden Fall auf der Liste. Allerdings musste sie dann noch mal die Kernfamilie meines Mannes mit aufnehmen, weil das wohl doch nicht geschehen war. Und das war es dann. Danach haben wir nichts mehr gehört. Wir bekamen nur eine E-Mail, die an alle ging, dass man sich wegen der Sicherheitslage nicht auf eigene Faust zum Flughafen begeben solle.
Wir haben das dann trotzdem getan. Aber das war die reinste Katastrophe. Wir dachten, wir kommen vielleicht doch durch, wenn wir mit unseren deutschen Pässen winken. Wir mussten uns zu Fuß durchkämpfen, es waren unglaubliche Menschenmassen dort aus allen Provinzen: Da waren Neugeborene, Verletzte. Mein Mann hat auch eine tote Frau dort gesehen und eine, die um ihren Mann geweint hat. Menschen, die in Ohnmacht gefallen waren. Die Vormittagshitze war schrecklich. Da sind wir dann an den Amerikanern vorbei. Dort war es auf einmal ganz übersichtlich. Sie haben uns aber einfach weitergeschickt und meinten, die Deutschen seien weiter vorne. Dann sind wir bestimmt noch einmal zwei Kilometer weiter zum nächsten Flughafentor gelaufen. Dort war dann die Hölle los. Aber deutsche Soldaten standen dort nicht. Also kehrten wir wieder um.
Eine afghanische Bekannte arbeitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul. Sie war die letzten Nächte bei uns, in der Hoffnung, dass ich als deutsche Staatsbürgerin eine E-Mail bekomme und sie dann mit uns losziehen kann. Ihre Chefin aus Berlin hat versucht, ihr Bestes zu tun. Wir sind am Donnerstag noch mal auf eigene Faust zum Flughafen gegangen. Dann haben wir von ihr die Nummer eines Deutschen bekommen, ich weiß nicht, ob er Soldat oder Diplomat war. Ich fragte ihn: "Können Sie uns irgendwie helfen? Wir stehen in unmittelbarer Nähe des Flughafentors. Kann uns einer reinholen?" Doch er meinte nur: "Ich bin ganz direkt: Nein, es gehen keine Flüge mehr raus. Es besteht akute Gefahr für die Gates. Machen Sie sich lieber auf dem Weg nach Hause." Da sind wir wieder gegangen.
Ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen. Uns bleibt nichts übrig, als zu hoffen, dass irgendwann die Zivilflüge wieder losgehen, aber große Hoffnung habe ich nicht.
Nur drei Stunden später sprengte sich am Donnerstag ein Selbstmordattentäter in der Menge am Flughafen von Kabul in die Luft. Auch in der Stadt kam es zu einem Anschlag. Insgesamt starben dabei mindestens 85 Menschen, darunter 13 US-Soldaten. Der letzte Bundeswehrflug verließ Afghanistans Hauptstadt am Donnerstagabend.
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