Schule ohne Klassenzimmer
11. August 2014Es sind Sommerferien in Deutschland, aber für die 13-jährige Lilly aus München spielt das keine Rolle. Sie hat auch jetzt Schule, obwohl sie sich in einem Urlaubsparadies befindet. Drei Monate im Jahr verbringt sie auf Tonga. Lilly begleitet ihre Eltern, die auf dieser Südseeinsel ein Hotel betreiben. Über Zeitzonen hinweg paukt sie jeden Tag vor ihrem Laptop mit ihrem Lehrer Robin Schade Mathematik und englische Grammatik. Robin Schade ist ihr in den Abendstunden in Deutschland per Skype aus Bochum zugeschaltet.
Lilly besucht ansonsten ein Gymnasium in München. Um aber den Anschluss an den Lernstoff zuhause nicht zu verpassen, büffelt sie auf Tonga weiter. Und zwar mit Hilfe der einzigen Internetschule Deutschlands. "Vor drei Jahren habe ich damit angefangen, und das klappt wirklich gut", sagt Lilly, die während der drei Monate von zwei Lehrern der Bochumer "Web-Individualschule" unterrichtet wird. "Ohne diesen individuellen Unterricht könnten wir unsere Tochter für diesen doch langen Zeitraum nicht mit nach Tonga nehmen", stellen Lillys Eltern fest.
Lernen über Zeitzonen hinweg
An der Internetschule unterrichten sieben Lehrkräfte knapp 90 Schüler im Alter von neun bis 22 Jahren. Vor zwölf Jahren wurde sie gegründet, um Kinder und Jugendlichen, die nicht regelmäßig eine Schule besuchen können, zu einem Schulabschluss zu verhelfen. Die Bochumer Einrichtung ist eine Privatschule, als staatlich zugelassene Fernschule darf sie weder Prüfungen abnehmen noch Noten vergeben. Ihren Haupt- oder Realschulabschluss machen die Jugendlichen an Partnerschulen vor einer staatlichen Prüfungskommission. Über 150 Schüler haben die Web-Schule bislang mit einem Abschluss verlassen. Durchgefallen ist noch nie jemand.
Zu den prominentesten Schülern gehören die Brüder Bill und Tom Kaulitz von der deutschen Band "Tokio Hotel". Ob sie nun in Japan oder in den USA auf Tour waren, ihre Lektionen in Deutsch, Mathematik, Englisch und Geographie haben sie im Hotel gelernt. Und natürlich auch Hausaufgaben gemacht. Ihre Lehrer standen trotz der Zeitverschiebung über das Internet mit ihnen in Kontakt und haben den Wissensstand abgefragt. Zum Schülerkreis gehören auch Kinder, deren Eltern für deutsche Unternehmen im Ausland tätig sind.
Individuelle Förderung par excellence
Der Großteil der Jugendlichen aber, die die Web-Schule besuchen, hat eine chronische oder psychische Erkrankung und kann daher keine Regelschule besuchen. Die monatlichen Schulkosten von rund 780 Euro übernimmt das jeweils zuständige Jugendamt für sie. Genau diese Kinder hatte Gerd Lichtenberger im Blick, als er die Schule gründete.
Anfangs wurden die Kinder hauptsächlich per E-Mail auf ihren Schulabschluss vorbereitet. Das änderte sich 2004, als Lichtenbergers Tochter Sarah die Schule übernahm. Heute wird vor allem per Skype, aber auch per Chat und Handy unterrichtet. Für ihre Schüler sind die Lehrer auch noch spät abends zu erreichen, wenn sie Nachfragen zum Stoff haben oder über persönliche Probleme reden wollen. Die sieben Lehrer wohnen in Bochum und im umliegenden Ruhrgebiet, haben es also nicht weit zu ihrer Schule ohne Klassenzimmer.
Alle könnten auch an Regelschulen unterrichten, doch sie haben sich für einen Fulltimejob an der Web-Schule entschieden. Zwei Pädagogen hat Sarah Lichtenberger ganz gezielt von öffentlichen Schulen abgeworben. "Man hat einfach schnell gemerkt, dass sie mit dem Medium Internet die Schüler ganz individuell erreichen und motivieren können." Je nach angestrebtem Abschluss kümmert sich jeweils ein Lehrer in den einzelnen Fächern um einen Schüler.
Psychologe berät Lehrerkollegium
Anna Gebbers-Fritsche unterrichtet seit zwei Jahren den zwölfjährigen Leon. Er kam als Asperger-Autist an der Hauptschule in seiner Heimatstadt Xanten überhaupt nicht zurecht. Inzwischen lernt er eifrig mit Anne Gebbers-Fritsche via Skype. Die Pädagogin wundert das nicht. "Der Bildschirm als zwischengeschaltetes Medium erleichtert es Asperger-Autisten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten", erklärt sie. In einer normalen Schulklasse dagegen scheuen Autisten vor einer direkten Kontaktaufnahme zurück und verschließen sich. Die meisten Pädagogen der Bochumer Internetschule besitzen eine Zusatzqualifikation für den Unterricht mit Asperger-Autisten.
Außerdem steht dem Lehrerkollegium ein Psychologe beratend zur Seite, wenn es abzuklären gilt, wie man auf die Schüler mit ihren unterschiedlichen Erkrankungen eingeht. Lernstoff von der Stange mit herkömmlichen Schulbüchern gibt es in vielen Fällen nicht. Stattdessen entwickeln die Pädagogen Materialien, für die sich die Schüler interessieren. Im Fach Mathematik kann das die Aufgabe sein, auszurechnen, wie viele Jahreskilometer Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel zurücklegt. Im Fach Geographie lässt sich auch Stoff über die Länder vermitteln, in denen Formel-1-Rennen stattfinden.
Zu den Absolventen gehört auch der 19-jährige Lynn Max Kempen, der eine Karriere als Tennis-Profi anstrebt. Nur diese Form des Lernens, sagt Lynn Max, habe es ihm ermöglicht, sich neben seinem sechsstündigen Training am Tag und den vielen Reisen zu Turnieren im Ausland auf den Realschulabschluss vorzubereiten. Und den hat er mittlerweile mit Erfolg geschafft.