Griechenland: Tragödie mit Ankündigung
16. Juni 2023Das hässliche Wort von den "illegalen Migranten" hört man dieser Tage in der griechischen Öffentlichkeit kaum. Stattdessen wird mitfühlend von "Flüchtlingen" gesprochen, von "unfassbarem Leid" und vom "ungerechten Tod im nassen Grab des Mittelmeers". Die Menschen in Griechenland sind erschüttert von der Tragödie im Ionischen Meer: Rund 47 Seemeilen südwestlich der kleinen Küstenstadt Pylos auf der Halbinsel Peloponnes ertranken vermutlich Hunderte von Flüchtlingen. Es ist eine der größten Flüchtlingstragödien in Europa der vergangenen Jahrzehnte.
Tote Flüchtlinge sind längst trauriger Alltag vor der griechischen Mittelmeerküste - das Land hat sich an das Leid gewöhnt. Erst vor wenigen Wochen, am 26. Mai, sank ein Schiff in der Nähe von Mykonos. Die damals neun ertrunkenen Flüchtlinge waren griechischen Medien nur einige wenige Berichte wert. Es bedurfte einer Tragödie des Ausmaßes vor Pylos, bei der auch zahlreiche Kinder ums Leben kamen, um die Griechen wieder zu erschüttern.
Die griechische Übergangsregierung rief umgehend eine dreitägige Staatstrauer aus. Auch der Wahlkampf für die zweite Runde der Parlamentswahl am 25.06.2023 wurde für drei Tage gestoppt. Die Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou und mehrere andere Politiker fuhren nach Kalamata, wo die meisten der 104 Geretteten versorgt werden, um ihre Solidarität mit ihnen zu demonstrieren. Selbst einige griechische Politiker, die mit Ressentiments gegen Flüchtlinge und Migranten Karriere gemacht haben zeigen sich nun tief berührt, betonen aber gleichzeitig die Notwendigkeit des Grenzschutzes. Dazu gehört etwa der bis vor kurzem amtierende Entwicklungsminister Adonis Georgiades und sein Parteifreund, der ehemalige Gesundheitsminister Thanos Plevris.
Als "Invasoren" beschimpft
Die regierungsfreundlichen griechischen Medien betonen, dass alles die "Schuld der Menschenhändler" sei. Die Flüchtlinge seien ertrunken, weil sie in ein völlig marodes Schiff "von kriminellen Menschenhändlern gepfercht" worden seien, schreibt etwa die Tageszeitung Apogevmatini. Verbreitet ist auch zu lesen, dass die Flüchtlinge lieber auf legalem Weg nach Europa kommen sollten, statt das eigene Leben und das von Kindern zu riskieren. Dass es solche legalen Wege praktisch nicht gibt, wird selten erwähnt.
Diejenigen in Griechenland, die derzeit noch vom Recht der Flüchtlinge auf Asyl und vom Recht auf Sicherheit und körperliche Unversehrtheit sprechen, gehören mittlerweile zu einer Minderheit. Teilweise werden sie sogar als schlechte Patrioten beschimpft, die die Grenzen Griechenlands und Europas für die "Invasoren" öffnen wollten.
Konsens gegen Migration
Seit 2020 hat die Mehrheit der griechischen Gesellschaft sich überzeugen lassen, dass die Flüchtlinge Eindringlinge seien und dass Griechenland sich vor den "Invasoren" verteidigen müsse. Damals standen einige Tausend Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Festlandgrenze und versuchten gewaltsam über den Fluss Evros nach Griechenland zu kommen. Darüber, dass der Grenzzaun am Evros weitergebaut und die Kontrollen auf hoher See strikter werden sollten, herrscht weitgehend Konsens.
Obwohl es immer wieder Berichte gibt, dass die Küstenwache potentielle Asylbewerber illegal zurück in türkische Gewässer abschiebt, empören sich viele Griechen nicht darüber. Im Gegenteil: Bei der ersten Runde der Parlamentswahl (21.05.2023) wurde deutlich, dass eine Mehrheit die Praxis der Pushbacks der Regierung unter Premier Kyriakos Mitsotakis gutheißt. Insgesamt stimmten fast 55 Prozent der Wählerinnen und Wähler für Mitsotakis' Partei Nea Dimokratia und für Parteien rechts von der ND. Also für Parteien, die für die "Festung Europa" stehen.
Gefährliche Route im zentralen Mittelmeer
Offiziell hat die Regierung Mitsotakis immer wieder die Berichte über die Pushbacks dementiert. Doch Menschenrechtsgruppen und Flüchtlingshelfer sprechen von gezielter Abschreckung.
Die Botschaft, dass Flüchtlinge in Griechenland nicht mehr willkommen seien, scheint längst angekommen zu sein. Immer mehr Asylsuchende und Migranten nutzen nicht mehr die Route aus der Türkei zu den Ägäis-Inseln, sondern die weit gefährlichere westlich von Griechenland durch das zentrale Mittelmeer. Laut Zahlen der EU-Grenzschutzbehörde Frontex wurden 71 Prozent aller illegalen Einreisen in die EU an EU-Seegrenzen auf dieser Route registriert (s. Grafik).
Die wenigen Wohlhabenden unter den Flüchtlingen nehmen von der Türkei aus auf Jachten Kurs auf Italien. Die Armen versuchen überwiegend, von Libyen aus nach Italien zu gelangen.
Nicht nur die Schuld von Menschenhändlern
Über die zentrale Mittelmeerroute haben es im Jahr 2023 bisher mindestens 12.000 Geflüchtete in die EU geschafft. Und 1166 Menschen sind bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben, die Toten von Pylos noch nicht eingerechnet. Laut dem EU-Portal Statista sind seit dem Jahr 2014 knapp 30.000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken - die meisten von ihnen wurden von kriminellen Menschenhändlern in marode Schiffe gepfercht und dann alleingelassen.
Im Falle von Tragödien wie die vor Pylos reiche es jedoch nicht aus, die Schuld nur Menschenhändlern zuzuschieben, meint Stelios Kouloglou, Europaabgeordneter der linken griechischen Partei SYRIZA. Im Gespräch mit der DW greift er zu einer Analogie: "Drogendealer sind schrecklich, aber die Ursachen für Drogentote liegen tiefer. Das Gleiche gilt für Flüchtlingsströme und Schiffbrüchige. Es ist auch die Schuld der europäischen Mitgliedsstaaten und solcher Politiker wie der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni, die keine Politik der Solidarität verfolgen wollen, bei der sie die Lasten der Flüchtlings- und Einwanderungsströme teilen."
Hat sich Griechenland strafbar gemacht?
Der Europaabgeordnete verweist auf Länder wie Frankreich, "die mit ihren militärischen Interventionen Flüchtlingsprobleme verursacht haben", aber auch auf solche wie Polen oder Ungarn, "die die ihnen zugewiesenen Flüchtlinge nicht aufnehmen".
Auch Griechenland trägt laut Kouloglou eine Mitverantwortung für die Tragödie vor Pylos: "Nach offiziellen Angaben der Küstenwache wollten die Schiffbrüchigen keine Hilfe von den ankommenden Booten. Dies könnte daran liegen, dass diese Geflüchteten Angst vor Pushbacks hatten und befürchteten, ihnen könnten die Mobiltelefone oder sogar ihr Geld weggenommen werden. Darum riskieren sie, auf überladenen Schiffen weiter nach Italien zu fahren. Sie riskieren lieber alles, als dorthin zurückzukehren, wo sie losgefahren sind, nach Libyen, in die Hölle."
Unterdessen bringen einige Experten bereits eine mögliche strafrechtliche Verantwortung griechischer Behörden ins Gespräch. "Der griechische Staat war bei dem Aufeinandertreffen der Küstenwache mit dem gekenterten Boot verpflichtet, mit der Rettung fortzufahren", sagt Vassilis Tsianos, Soziologe an der Universität Kiel und Vorsitzender des Rats für Migration e.V. (RfM), dessen Mitglieder zu Migrationsfragen forscht. "Ich bin mir sicher, dass es nicht nur um einen Fall von Fahrlässigkeit geht", so Tsianos zur DW. "Wenn jemand ertrinkt, fragen wir ihn nicht erst, ob wir ihn retten dürfen. Das ist die Grundlogik der Seenotrettung."