EU plant schnellere Grenzverfahren für Asylsuchende
9. Juni 2023Den ganzen Donnerstag über verhandelten die 27 Innenministerinnen und Innenminister der EU beim Ratstreffen in Luxemburg, um eine seit Jahren vorbereitete umfassende Reform der Asylverfahren und der Steuerung der Migration verabschieden zu können. "Es gibt Licht am Ende des Tunnels", meldete ein Delegierter aus den noch laufenden Verhandlungen nach fast 12 Stunden Beratung. Die schwedische Ratspräsidentin Maria Malmer Stenergard hatte die Sitzungen dreimal unterbrochen und nach ablehnenden Äußerungen der Delegationen die Texte immer wieder ändern lassen.
Dann endlich waren die großen EU-Staaten wie Deutschland und Italien an Bord, kleinere aber nicht. Die Entscheidung fiel am Ende nicht einstimmig, sondern mit einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedsstaaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Dagegen stimmten Polen und Ungarn, die sich auch weiterhin nicht an die gemeinsamen Migrationsregeln der EU halten wollen.
Aufnehmen oder zahlen
Der nationalkonservative polnische Innenminister Mariusz Kaminski kündigte beispielsweise an, Polen werde keine Entschädigung für nicht aufgenommene Asylbewerber in einen EU-Fonds einzahlen. Diese Entschädigung, 20.000 Euro pro Asylbewerber, sind nach den neuen Solidaritätsregeln fällig, falls ein Land nicht so viele Asylbewerber aufnimmt, wie es dies nach seiner Bevölkerungszahl eigentlich leisten müsste.
Die Migrations-Expertin Helena Hahn von der Denkfabrik "European Policy Centre" hat Zweifel, dass das neue System rund laufen wird: "Wir haben bis zum Schluss gesehen, dass dies auf Widerstand in einigen Mitgliedsstaaten inklusive Polen stößt. Die sagen, diese Kosten sind zu hoch. Deshalb können wir mehr Opposition erwarten."
Wenige Chancen bei Anerkennungsquote unter 20 Prozent
Trotz der massiven Opposition gegen die "obligatorische Solidarität" mit den hoch belasteten Ersteinreiseländern Griechenland, Italien, Zypern und Malta hält die deutsche Innenministerin Nancy Faeser den Beschluss in Luxemburg für eine "historische" Entscheidung, die niemandem leicht gefallen sei. Die Ministerin billigte am Ende die in der deutschen Regierungskoalition aus SPD, Grünen und Liberalen umstrittenen schnellen Asyl-Prüfungsverfahren an den Außengrenzen der EU.
Mit diesen Grenzverfahren sollen in höchstens 12 Wochen diejenigen Asylsuchenden ausfindig gemacht werden, deren Anliegen offensichtlich unbegründet ist, weil sie aus einem relativ sicheren Land kommen. Das trifft auf alle Länder zu, bei denen die EU-weite Anerkennungsquote von Asylgesuchen unter 20 Prozent liegt. Bespiele dafür wären Pakistan, Albanien und einige afrikanische Länder.
Rückführung in Drittländer
Menschen, die im Grenzverfahren abgelehnt werden, können nach den neuen Regeln schnell in ihre Herkunftsländer oder andere Drittländer abgeschoben werden. Ob ein Drittland für eine Zurückführung geeignet ist, sollen in Zukunft die abschiebenden Staaten, also Griechenland und Italien, selbst entscheiden können. Ein EU-weite Liste gibt es nicht mehr.
In das Grenzverfahren kommen auch Familien mit Kindern und unbegleitete Minderjährige. Das wurde von den Grünen in der Berliner Ampelkoalition heftig kritisiert. Innenministerin Nancy Faeser sagte in einer Protokollerklärung zum Beschluss von Luxemburg zu, sie wolle sich weiter für Kinderrechte und Ausnahmen einsetzen. Ob das dem Koalitionspartner in Berlin reicht, ist unklar.
40.000 Plätze für den Anfang
Für die Grenzverfahren müssen nun neue, halbwegs geschlossene Lager in den Ersteinreiseländern Griechenland und Italien eingerichtet werden, die von Flüchtlingsorganisationen, aber auch von den Grünen und Teilen der SPD als unzulässige Gefängnisse oder Haftanstalten angesehen werden. Italien hat der Regelung nur zugestimmt, nachdem die Kapazitäten für diese Grenzverfahren während der zähen Beratungen an diesem Donnerstag deutlich abgesenkt wurden.
Mit 120.000 Plätzen pro Jahr ging die schwedische Ratspräsidentschaft in die Verhandlungen hinein, mit 40.000 Plätzen, also einem Drittel, kam sie wieder heraus. Dementsprechend gesunken ist auch die Zahl der Menschen, die die übrigen EU-Staaten Italien oder Griechenland im Rahmen einer "Relocation", einer Umsiedlung aus den Lagern, abnehmen müssen. Zu einer solchen Relocation von aussichtsreichen Asylbewerbern sind im Moment sowieso nur Deutschland, Portugal, Irland und Luxemburg bereit.
Alle übrigen Mitgliedsstaaten müssten Ausgleichzahlungen in einen EU-weiten Fonds leisten, aus dem Grenzschutz und andere Ausgaben für Migrationsverhinderung bezahlt werden sollen. "Besonders die Mitgliedsstaaten, die jetzt schon hohe Ankunftszahlen verzeichnen, müssen ihre Kapazitäten für Verfahren noch einmal deutlich aufstocken, um diese Grenzverfahren wirklich ordentlich abwickeln zu können", gibt die Migrationsforscherin Helena Hahn im DW-Gespräch zu bedenken.
Die Mehrheit geht nicht ins Grenzverfahren
Die hauptsächlichen Flüchtlingsgruppen aus Syrien oder Afghanistan sind von den neuen Regeln nicht betroffen, weil die Anerkennungsquote hier bei rund 50 Prozent liegt. Diese Menschen verbleiben im "normalen" Verfahren. Das heißt sie werden in Griechenland oder Italien registriert und wandern dann meist in Richtung Deutschland weiter. Diese "Sekundärmigration", die nach EU-Gesetzen eigentlich nicht zulässig, aber gängige Praxis ist, wird durch die neuen mühsam geschriebenen Regeln kaum berührt. Die EU-Staaten versprechen sich nur - wie schon oftmals zuvor - Asylsuchende, für die sie eigentlich als Ersteinreiseland zuständig wären, auch zurückzunehmen.
Auswirkungen umstritten
Das Ziel der Reformen ist es, die Zahlen der Ankünfte und Asylbewerber in der EU zu senken. Die ist nämlich in den letzten Jahren stark angestiegen. 2022 stellten 850.000 Menschen einen Erstantrag auf Asyl. EU-Diplomaten erklärten, mit den neuen Regeln setze man auf verstärkte Abschreckung. Der ungarische Innenminister Sandor Pinter bezweifelt, dass die neuen Grenzverfahren einen entsprechenden Effekt haben werden. Der nationalkonservative Pinter erklärte bei einem Besuch bei seinem bayerischen Kollegen Joachim Hermann (CSU) kürzlich in Würzburg, die Außengrenzen der EU müssten besser geschützt werden, also undurchlässiger für Migranten werden. Die deutsche Innenministerin Faeser sagte dagegen in Luxemburg: "Ich will die Grenzen offen halten."
Migrationsexpertin Helena Hahn von der Denkfabrik "European Policy Centre" empfiehlt den Mitgliedsstaaten dringend weitere Konsenssuche und bessere Koordination. "Geschieht dies nicht, sehen wir wahrscheinlich mehr von dem, was heute schon ist." Ungeordnete Verfahren, steigende Zahlen. "Das System, wie es heute ist, funktioniert nicht", monierte der österreichische Innenminister Gerhard Karner.
Die jetzt vom EU-Ministerrat verabschiedeten Regeln müssen nun in Verhandlungen mit dem EU-Parlament bis zum Ende des Jahres gebilligt werden. Läuft das weitere Gesetzgebungsverfahren reibungslos, bevor sich die Parlamentarier im Frühjahr in den Wahlkampf für die Europawahl im Juni verabschieden, kann das neue Asylverfahrensrecht im nächsten Jahr in Kraft treten. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind von den neuen Regeln übrigens nicht berührt. Sie genießen einen außerordentlichen Schutz mit einer anderen Rechtsgrundlage.