Sahraa Karimi über ihre Flucht aus Kabul
22. August 2021Es waren bange Tage und Stunden, die Sahraa Karimi durchlebte, bis ihr und ihrer Familie die Flucht aus Afghanistan gelang. Am Dienstag, den 17.08.2021, kamen sie in der ukrainischen Hauptstadt Kiew an - zwei Tage, nachdem die Taliban die Kontrolle über Kabul übernommen hatten und nachdem sie inmitten des Chaos auf dem Flughafen einen ersten Flug verpasst hatten.
"Der Moment, als wir das erste Flugzeug verpassten, war der traurigste meines Lebens, denn ich dachte: 'Okay, wir kommen hier nicht mehr raus, wir bleiben.' Aber dann habe ich mich zusammengerissen. Wissen Sie, warum? Weil ich eine Kämpferin bin. Ich gebe niemals auf", sagte Karimi der Nachrichtenagentur Reuters.
Appell an die Welt
Sahraa Karimi ist die Präsidentin der staatlichen afghanischen Filmorganisation, Regisseurin des bei den Filmfestspielen von Venedig für einen Preis nominierten Films "Hava, Maryam, Ayesha" von 2019 und die einzige promovierte Filmwissenschaftlerin Afghanistans.
Am 13. August hatte sie in einem offenen Brief an die Welt appelliert, afghanische Filmemacher und andere Kulturschaffende vor der Gewalt der Taliban zu schützen.
Karimi hat an der Slowakischen Film- und Fernsehakademie Film studiert. Der Präsident der Akademie sowie die türkische und ukrainische Regierung halfen ihr und ihren Verwandten nun bei der Flucht.
Flucht aus Sorge um die Zukunft ihrer Nichten
Laut DW-Reporter Scott Roxborough, der mit Karimi nach ihrer Ankunft in der Ukraine sprechen konnte, wollte die Filmemacherin Afghanistan zunächst nicht verlassen - obwohl ihr bewusst war, dass sie als führende afghanische Regisseurin in großer Gefahr schwebte.
"Der Grund, warum sie sich doch zur Flucht entschloss, war der Gedanke an ihre Nichten, von denen die jüngste zwei Jahre alt ist, und die Vorstellung, dass sie unter dem Taliban-Regime aufwachsen würden. Weil sie Mädchen sind, würden sie nicht zur Schule gehen können, keine Ausbildung erhalten, nicht arbeiten können." Der Gedanke an dieses Schicksal sei zu viel für sie gewesen, berichtete Roxbourgh.
Auch wenn die Taliban jetzt angekündigt haben, die Rechte der Frauen zu respektieren, so ist doch anzunehmen, dass diese Rechte sich nach strengen islamischen Regeln zu richten haben. Unter der früheren Taliban-Herrschaft durften Mädchen nicht zur Schule gehen und Frauen nicht arbeiten. Wer gegen die Regeln verstieß, wurde mit drakonischen Strafen belegt. Kunst und kulturelle Aktivitäten, insbesondere von Frauen, gab es praktisch nicht.
"Unter der Herrschaft der Taliban lebt man irgendwie, aber es ist ein elendes Leben. Im Leben geht es nicht nur um Essen oder Kleidung. Es geht um Kreativität, Kunst, Kultur und kreatives Denken - um eine Lebensphilosophie ", so Karimi in dem TV-Interview.
Dramatische Fluchtszenen
In Interviews mit "The Hollywood Reporter" und Reuters schilderte Karimi die dramatischen Ereignisse vor ihrer Flucht aus Kabul: wie sie versuchte, in einer Bank Geld abzuheben, als Schüsse fielen. Ein Angestellter forderte sie auf, die Bank zu verlassen und brachte sie durch die Hintertür hinaus. Da weit und breit kein Taxi aufzutreiben war, rannte Karimi fünf Kilometer weit durch die Stadt, um nach Hause zu kommen - und dokumentierte dies auf Instagram.
Entschlossen, ihre Familie - einschließlich ihrer fünf Nichten - aus dem Land zu bringen, rief sie die slowakische Filmhochschule an. Dort nannte man ihr einen Flug von Kabul in die Ukraine, den sie nehmen sollte. Doch als Sahraa Karimi und ihre Verwandten am Flughafen ankamen - zusammen mit tausenden anderen Afghanen, die zu fliehen versuchten - wurde ihnen der Zugang zu diesem Flug verwehrt.
Ein "Völkermord an Filmemachern und Künstlern"
"Viele Menschen kamen zum Flughafen, klammerten sich an das Flugzeug, um mitgenommen zu werden. Sie waren so verzweifelt. Tausende, Tausende haben versucht, einen Fluchtweg zu finden", erzählt Karimi in dem Interview weiter. Nur wenige Stunden, nachdem sie mit hilfsbereiten Beamten gesprochen hatte, konnte sie mit ihrer Familie einen türkischen Flug über Istanbul in die Ukraine ergattern.
Nun arbeitet sie von der Ukraine aus daran, 36 weitere afghanische Filmemacher und ihre Familien aus dem Land zu bringen, berichtete sie der Zeitschrift "The Hollywood Reporter".
Karimi warnte vor einem "Völkermord an Filmemachern und Künstlern", sollte die internationale Gemeinschaft nicht handeln. "Die Taliban haben sich nicht verändert. Ideologisch leben sie in der Steinzeit", ist sie überzeugt.
Wichtige Stimmen
Die Rückkehr der Taliban wird mit ziemlicher Sicherheit das Ende der aufstrebenden afghanischen Filmindustrie bedeuten, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf nationaler und internationaler Ebene etabliert hatte. Vielbeachtete Filme afghanischer Regisseurinnen, darunter Karimis eigener Film "Hava, Maryam, Ayesha", der 2019 bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigt wurde, konzentrieren sich auf das Leben afghanischer Frauen mit all seinen tief verwurzelten Herausforderungen und Problemen.
"Die Stimmen der afghanischen Filmemacher sind so wichtig", unterstreicht Karimi. "Weil es genau die Stimmen sind, die in Afghanistan so lange zum Schweigen gebracht wurden. Und die Geschichten, die sie erzählen, sind Geschichten, die die westlichen Medien nicht erzählt haben."
Adaption aus dem Englischen: Sven Töniges