Aktivistin Hekmat: "Bitte lasst Afghanistan nicht allein"
18. August 2021Zakira Hekmat ist Gründerin des Flüchtlingshilfswerks Afghan Refugees Solidarity Association (ARSA). Sie arbeitet vor allem mit aus Afghanistan geflohenen Frauen zusammen.
Vor 13 Jahren verließ sie Afghanistan. Zurzeit lebt sie in der zentralanatolischen Stadt Kayseri. Als Kind hat sie die Taliban selbst erlebt. Die Machtergreifung der Taliban würde vor allem Mädchen und Frauen vor enorme Herausforderungen stellen, sagte sie im DW-Interview.
Hier das gesamte Gespräch:
DW: Hätten Sie erwartet, dass der Rückzug der NATO-Truppen aus Afghanistan zu so einem Schreckensszenario führt und die Taliban das Land so schnell erobern?
Zakira Hekmat: Ich hatte einen regelrechten Nervenzusammenbruch, als ich das erfahren habe. Niemand hat sich vorstellen können, dass die Taliban so schnell das ganze Land erobern könnten: Innerhalb von wenigen Stunden standen sie in Kabul. Im Moment leidet das gesamte Volk Afghanistans, aber vor allem die Frauen. Ich folge vielen Afghanen in den sozialen Netzwerken: Aktivisten, Frauenrechtlerinnen oder Journalisten - sie sind alle angespannt.
Wie fühlt es sich für Sie an, Afghanistan und die Menschen in so einer Lage zu sehen?
Die Menschen in Afghanistan haben die Hoffnung verloren. Früher gab es noch öffentlichen Widerstand. Es bestand die Hoffnung, dass 'wir' uns gemeinsam gegen die Taliban stellen und verhindern können, dass sie sich ausbreiten. Aber diese Hoffnung ist jetzt komplett verloren gegangen. Seither kann ich nicht mehr schlafen. Wir befinden uns alle in einem Zustand der Furcht. So etwas hat das afghanische Volk nicht verdient.
Vor allem den Frauen in Afghanistan droht ein riesiger Rückschlag - sie müssen nun um ihre Rechte bangen. Sie haben die Taliban selbst erlebt. Was bedeutet es, als Mädchen oder Frau unter der Taliban-Herrschaft zu leben?
Es bedeutet den Tod. Das ist alles, was ich sagen kann. Die Situation ist so schlimm. Wir haben es in Afghanistan vor nicht allzu langer Zeit gesehen, wie es ist, wenn die Taliban an der Macht sind (Anmerkung der Redaktion: zwischen 1996-2001). Frauen durften das Haus nicht verlassen. Mädchen durften nicht die Schule besuchen.
Gibt es zu diesem Zeitpunkt bereits Auswirkungen auf das Leben von Frauen?
Die dunklen Tage, die viele Frauen vor über 20 Jahren unter den Taliban erlebt haben, werden zurückkehren. Frauen werden wieder unterdrückt werden. Das ist eine sehr beängstigende Angelegenheit. Ich weiß, dass sehr viele Menschen versuchen, zu Fuß zu fliehen.
Was berichten Ihre Kontaktpersonen in Afghanistan über die aktuelle Situation?
Leider habe ich im Moment zu niemandem Kontakt, weil die Taliban überall dort, wo sie angekommen sind, die Infrastruktur angegriffen und das Netz und die Telefonverbindungen gekappt haben. Ich habe fast zwei Wochen nichts aus meiner Heimatstadt Ghazni gehört. Meine Familie lebt dort, aber ich höre nichts von ihnen. Ich kann mit niemandem reden. Auch in Kabul konnte man die Menschen gestern telefonisch kaum erreichen.
Sie haben vor 13 Jahren Afghanistan den Rücken gekehrt und leben seither in der Türkei. Was waren genau die Gründe damals?
Mir war es gelungen, heimlich die Schule zu beenden, obwohl die Taliban Einfluss hatten. Dann bin ich nach Kabul gegangen, weil es mein Traum war, zur Uni zu gehen und auf eigenen Beinen zu stehen. Das war der Traum vieler Mädchen. Doch nicht viele hatten diese Chance, aber ich habe dann ein Stipendium erhalten, um in der Türkei zu studieren.
Ich bin 2008 in die Türkei gekommen. Bis 2001 gab es eine Taliban-Regierung. Nach dem Einmarsch der US- und NATO-Streitkräfte in Afghanistan wurden die Taliban gestürzt. Aber es gab auch danach noch Konflikte, denn die Taliban hatten weiterhin Einfluss. Besonders Chasaren wurden in der Stadt Ghazni (Anm. d. Red.: Hekmat gehört diesem Turkvolk an) gezielt und massiv angegriffen.
Die Taliban gaben sich bei ihrer ersten Pressekonferenz versöhnlich und friedliebend. Nehmen sie das den Extremisten ab?
Jetzt sprechen die Taliban eine sanfte Sprache, aber das afghanische Volk nimmt ihnen das nicht ab. Niemals hat jemand auch einen Hauch von Frieden unter den Taliban erlebt. Wir alle kennen die Taliban sehr gut. In der Provinz Herat haben sie bereits Menschen getötet. Wie kann das afghanische Volk den Taliban vertrauen? Ich weiß, dass viele Afghanen denken, dass sie vor dem Abgrund stehen, ihnen aber keiner hilft.
Viele argumentieren jetzt, dass die internationale Gemeinschaft gefragt ist, um Frieden und Stabilität zu gewährleisten. Was sagen Sie dazu?
Wir hatten die Hoffnung, dass die mittlerweile ehemalige Zentralregierung nach dem Abzug der Truppen eine neue Politik im Bereich der Frauenrechte, der Kinderrechte und Menschenrechte anstreben würde. Da haben wir uns getäuscht.
Afghanen werden sterben, und die ganze Welt schaut nur zu. Sie schauen sich den Untergang Afghanistans an und unternehmen nichts. Ich möchte an die Welt appellieren: Bitte lasst Afghanistan nicht allein.
Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut