"Wir brauchen eine Denkpause"
13. September 2018"Alerta, alerta, Antifascista", tönt es aus dem Dickicht - sei Wachsam, Antifaschist. Wem die Stimme gehört, ist nicht zu erkennen - zu weit ist die Absperrung, hinter der Fernsehteams ihre Kameras aufgebaut haben, vom Ort des Geschehens entfernt. Auf der anderen Seite des Flatterbands, umgeben von schweren Räumfahrzeugen und Polizisten mit Schutzhelmen und -schilden, ist ein "Höheninterventionsteam" der Polizei im Einsatz: Die Beamten versuchen, Umweltaktivisten zu erreichen, die einen Tripod - ein meterhohes Holzkonstrukt aus drei Baumstämmen - und ein nahegelegenes Baumhaus besetzt haben.
Die Aktion ist Teil der Räumung des seit Jahren von Braunkohlegegnern besetzten Hambacher Forsts, die die schwarz-gelbe Landesregierung angeordnet hat. Bauministerin Ina Scharrenbach und Innenminister Herbert Reul argumentierten, bei den Baumhäusern handele es sich um "bauliche Anlagen", die nicht nach dem Bauordnungsrecht genehmigt worden seien. Aufgrund eines "massiven Verstoßes gegen Brandschutzvorschriften" gebe es eine "Gefahr für Leib und Leben". Aus Sicht der Umweltaktivisten macht sich die Landesregierung damit zum Erfüllungsgehilfen des Energiekonzerns RWE, der den Hambacher Forst ab Mitte Oktober roden will, um den Braunkohletagebau voranzutreiben.
Allerdings setzen die Beamten geltendes Recht um: Bereits im März hatte die zuständige Bezirksregierung Arnsberg dem Hauptbetriebsplan für den Tagebau Hambach, der unter anderem die Rodungen beinhaltet, zugestimmt. Seitdem hat der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) mehrfach, aber bisher erfolglos versucht, die Rodungen gerichtlich zu stoppen. Laut RWE sind sie notwendig, um die Stromproduktion in den Braunkohlekraftwerken zu sichern. Ein Sprecher des Unternehmens betonte zudem, RWE sei nicht "unmittelbarer Veranlasser" des Polizeieinsatzes. Derweil haben DW-Recherchen Zweifel daran genährt, dass die Rodungen, wie RWE sagt, zu diesem Zeitpunkt erforderlich seien.
"Auf die Fahne geschrieben, keine Personen zu verletzen"
Seit dem frühen Donnerstagmorgen sind neben mehreren Hundertschaften aus ganz NRW auch Bundespolizisten vor Ort. Sie sollen die rund 50 Baumhäuser aus dem Waldstück gut 30 Kilometer westlich von Köln entfernen, in denen mehr als 100 zum Teil militante Umweltaktivisten leben - ein Unterfangen, das nach Polizeiangaben pro Behausung mehrere Stunden dauern kann.
"Das Problem ist jetzt, dass sich hier Personen drauf befinden", sagt Polizeisprecher Paul Kemen mit Blick auf die Räumungsaktion an der Holzkonstruktion. "Wir wissen nicht, haben sie sich angekettet? Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, keine Personen zu verletzen, möglichst alles gewaltfrei zu machen." Gleichzeitig habe die Polizei das Gewaltmonopol, betont Kemen, der in der Nähe einer Absperrung Fragen von Journalisten beantwortet. Freiwillig kämen die Aktivisten nicht herunter. Man werde erst einmal versuchen, "verbal auf sie einzuwirken". Wenn sie darauf nicht reagieren würden, "werden sie mit der Anwendung körperlicher Gewalt da runtergeholt."
Ganz in der Nähe beobachtet Christiane Niesel den Räumungsversuch - und ist empört. "Ich finde es unglaublich, was hier passiert. Wir brauchen ein Moratorium, eine Denkpause. Solange irgendwo in dieser Republik irgendjemand tagt, wird hier gar nicht geräumt und auch nicht gerodet. Ich finde, dass die Arbeiten von RWE gestoppt werden müssen und auch die Polizei."
Räumung "völlig kontraproduktiv"
Niesel, die sich unter anderem auf einem eigenen YouTube-Kanal für den Kohleausstieg engagiert, ist aus Köln in den Wald gekommen. Sie frustriert die Beobachterrolle, die anwesende Journalisten und einige Aktivisten bei der Räumung einnehmen. "Wir hatten hier Hunderte Leute im Laufe des Vormittags, die sich nicht einmischen. Wir haben hier eine lebensgefährliche Situation, in die sich der Besetzer zugegebenermaßen selbst gebracht hat, aber man hätte es dann stoppen müssen. Ich finde es unmoralisch, dass hier so viele Leute inklusive meiner selbst zugucken, wie ein Menschenleben gefährdet wird."
Auch Gesche Jürgens von Greenpeace findet die Polizei-Aktion unangebracht: "Solche Konstruktionen aus großen Baumstämmen hier zu räumen, das ist sehr gefährlich. Hier werden aus meiner Sicht alle Beteiligten unnötig in Gefahr gebracht, weil insgesamt diese Räumung zu diesem Zeitpunkt völlig absurd ist - zu einem Zeitpunkt, wo wir Deeskalation brauchen und keine Eskalation." Es sei "völlig kontraproduktiv", eine Räumung durchzuführen, wenn "parallel in Berlin die Kohlekommission über einen sozialverträglichen Kohleausstieg diskutiert", kritisiert die Aktivistin.
Ruhe vor dem Sturm in "Oaktown"
Während die Räumung der Barrikade in vollem Gange ist, herrscht tiefer im Wald noch die Ruhe vor dem Sturm. Kurz taucht in der Nähe der Baumhaussiedlung "Oaktown" eine Gruppe Vermummter auf, die laut Parolen rufen, bevor sie wieder verschwinden. Die Siedlung selbst, zu der noch keine Einsatzkräfte vorgedrungen sind, wirkt dagegen fast idyllisch: Aktivisten überqueren die Hängebrücken zwischen den Baumhäusern, an denen bunte Transparente hängen. Jerry ist aus einer nahegelegenen Siedlung hergekommen, in der er seit einem Jahr lebt. Der Aktivist, der seinen Nachnamen nicht nennen will, glaubt nicht, dass die Ruhe in Oaktown noch lange anhalten wird. "Ich kann mir gut vorstellen, dass die Polizei versuchen wird, hier zu räumen. Ich denke, sie wird notfalls auch mit härtester Gewalt vorgehen, um Menschen aus dem Wald hier rauszubekommen und die Konzerninteressen von RWE durchzusetzen." Sollte es zu einer Räumung kommen, will er von einem Baumhaus aus Widerstand leisten und seinen "Körper der Polizei entgegenhalten".
Damit ist er nicht der Einzige. Und Körper sind nicht das Einzige, was die Aktivisten der Polizei entgegenbringen. Im Laufe des Donnerstag treffen die Einsatzkräfte auch auf gewaltsamen Widerstand: Steine, Molotowcocktails sowie Zwillengeschosse treffen Fahrzeuge und Beamte. Ein Polizist sei leicht verletzt worden.
Einsatz könnte noch lange dauern
Während die Polizei Aktivisten, die sich der Räumung widersetzen, gewaltsam aus den Baumhäusern entfernen, wird auch außerhalb des Walds gegen die Räumung vorgegangen. Bei den Verwaltungsgerichten in Köln und Aachen gehen, kurz nachdem sie begonnen hat, mehrere Eilanträge gegen die Polizeiaktion ein. Einen Eilantrag lehnt das Kölner Gericht am Nachmittag ab, weitere Ergebnisse der Prüfung sollen am späten Abend bekanntgegeben werden.
Wie lang der Einsatz dauern wird - sollte er nicht gerichtlich gestoppt werden -, ist laut Polizeisprecher Kemen "sehr, sehr schwer zu sagen, weil er sehr kräftezehrend ist". Den Vorwurf einer Eskalation durch die Polizei weist er zurück. "Unsere Marschrichtung war immer, dass wir eine Differenzierung vornehmen zwischen friedlichen Demonstranten und gewaltsamen. Das haben wir immer beibehalten, und deswegen stehen wir auch in sehr engem Kontakt zu friedlichen Demonstranten. Im Bereich des Hambacher Forstes haben wir sogar Kontaktbeamte eingesetzt, deren Telefonnummern bekannt sind." Man versuche, stets im Dialog mit den friedlichen Demonstranten zu bleiben. Gegen Straftäter aber gehe man konsequent vor.
RWE hat erklärt, ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster abwarten zu wollen, allerdings maximal bis zum 14. Oktober. Dann soll die Rodung spätestens beginnen. An diesem Tag wollen abermals mehrere Umweltverbände gegen die Rodung demonstrieren. Auch Gesche Jürgens will dabei sein: "Wir müssen die Aufmerksamkeit auf diesen Brennpunkt richten, um auch die Bundespolitik darauf hinzuweisen."