Russland stößt den Westen vor den Kopf
21. Februar 2022Russlands Staatschef Wladimir Putin hat zwei von Separatisten beanspruchte Gebiete in der Ostukraine als unabhängige Staaten anerkannt - und damit eine rote Linie überschritten. Zumindest aus der Sicht der Europäischen Union und der NATO. Nachdem Putin die Anerkennungsdekrete für "Luhansk" und "Donezk" als "Volksrepubliken" unterschrieben und sich in einer Fernsehansprache erklärt hatte, kündigte die EU am Abend in Brüssel die Verhängung von ersten neuen Sanktionen gegen russische Personen und Einrichtungen an.
Für den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, und die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, verstößt Wladimir Putin mit seinem Schritt gegen internationales Recht und die Minsker Abkommen, die einen Friedensprozess zwischen der Ukraine und den Separatisten vorsahen. "Die Union wird mit Sanktionen gegen alle reagieren, die an dieser illegalen Tat beteiligt sind", heißt es in der Erklärung der EU-Spitzen. Welche Sanktionen genau, das wurde noch nicht mitgeteilt. Darüber müssen nun die ständigen Botschafter der Mitgliedsstaaten in Brüssel oder ein Ministerrat entscheiden.
NATO: Putin schafft einen Vorwand
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilt das Vorgehen Russlands ebenso scharf. "Das untergräbt die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine weiter, macht die Versuche den Konflikt zu lösen schwerer und verletzt den Vertrag von Minsk, den Moskau selbst unterschrieben hat", sagte Stoltenberg am Abend in Brüssel.
Bei der NATO befürchtete man zurecht, Putin werde nun auch reguläre Truppen in die Ostukraine schicken, um den neuerdings "unabhängigen" Staaten und ihren "Regierungen" zur Hilfe zu eilen. Seit Tagen behaupten die Separatisten und auch die Führung in Moskau, dass die ukrainische Armee eine Art Völkermord plane oder begehe. Diese Darstellung wird von der Ukraine und ihren westlichen Verbündeten scharf zurückgewiesen und ist durch nichts bewiesen. "Moskau versucht einen Vorwand zu schaffen, um erneut in die Ukraine einzumarschieren", warnt der NATO-Generalsekretär.
Das Weiße Haus in Washington kündigte an, dass US-Präsident Joe Biden neue Sanktionen gegen Russland verfügen werde. Am Abend hatte Bundeskanzler Olaf Scholz noch mit Wladimir Putin telefoniert und den russischen Präsidenten vor einer völkerrechtswidrigen Anerkennung der Separatistengebiete gewarnt. Vergebens.
2014 hatte Putin die ukrainische Krim annektiert und einen Stellvertreterkrieg in der Ostukraine losgetreten. 2008 waren russische Truppen in die Gebiete Abchasien und Süd-Ossetien in Georgien eingerückt, nachdem Russland die Rebellen-Gebiete als Staaten anerkannt hatte. Ein ähnliches Vorgehen ist nun auch in der Ostukraine zu erkennen.
Gipfeltreffen eher unwahrscheinlich
Damit ist die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung, die am Sonntag kurzzeitig aufgekeimt war, vorerst wohl dahin. Der Außenbeauftragte der Europäischen Union, Josep Borrell, erklärte nach einer zehn Stunden dauernden Sitzung der EU-Außenminister und Außenministerinnen in Brüssel, er sehe nicht, dass es nun noch zu dem angedachten Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen Präsidenten und dem russischen Präsidenten kommen werde.
Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte am Sonntag drei Stunden lang mit Wladimir Putin telefoniert und danach erklärt, ein Gipfeltreffen und eine diplomatische Lösung der Krise seien möglich. Aus dem Kreml hieß es aber schon am Montagmorgen einschränkend, es sei noch keine konkrete Planung für einen Gipfel angelaufen. US-Außenminister Anthony Blinken und sein russisches Gegenüber, Sergej Lawrow, hatten für Donnerstag ein vorbereitendes Treffen in Genf vereinbart. Auch diese Begegnung in der Schweiz hat nun kaum eine Zukunft. Vor einem Monat hatten sich Blinken und Lawrow schon einmal ohne Ergebnis in Genf getroffen.
Nicht über die Köpfe der Ukraine hinweg
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba, der einmal mehr bei den Außenministerinnen und -ministern der Europäischen Union in Brüssel zu Gast war, hatte die Idee eines Gipfeltreffens begrüßt. Sein US-Kollege habe ihm zugesichert, Entscheidungen würden nicht hinter dem Rücken der Ukraine getroffen werden.
Frankreich, Deutschland und die Ukraine hatten auch angeregt, das sogenannte Normandie-Format wieder zu beleben. Zusammen mit Russland hatten die drei Staaten nach Vereinbarungen in der belarussischen Stadt Minsk 2015 über einen Friedensprozess und einen Waffenstillstand in der Ostukraine verhandelt. Das letzte Gipfeltreffen der vier Staats- und Regierungschefs fand im Dezember 2019 statt.
"Wir sprechen nicht über die Ukraine, sondern nur mit der Ukraine", versicherte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock beim Außenministertreffen in Brüssel. Man werde nichts unversucht lassen. "Deshalb telefonieren wir alle ununterbrochen mit unseren russischen Kollegen." Das Minsker Abkommen hat der russische Präsident Putin de facto aufgekündigt. Es sei nicht mehr zu retten, weil die Ukraine die Bedingungen nicht erfülle, hatte Putin behauptet.
Baerbock: "Kehren Sie an den Verhandlungstisch zurück!"
In Deutschland stimmen fast alle Parteien überein, dass Moskau die Krise ausgelöst hat. Nur die Linke, und hier die Bundestagsabgeordnete Sarah Wagenknecht, kritisiert die scharfen Äußerungen aus Washington. "Die Aggressivität, mit der von amerikanischer Seite ein russischer Einmarsch geradezu herbeigeredet wird, die ist schon bemerkenswert", sagte die linke Politikerin in einer ARD-Talkshow.
Über mehr Transparenz, militärische Übungen und Sicherheitsinteressen könne man mit Russland sprechen, stellte Außenministerin Baerbock in Brüssel klar, nicht aber über die Grundsätze europäischer Verträge. Die legen fest, dass jedes Land selbst wählen darf, welchem Bündnis es angehören möchte, auch die Ukraine oder andere ehemalige Sowjetrepubliken. Baerbock forderte die russische Regierung direkt auf: "Kehren sie an den Verhandlungstisch zurück! Wir warten auf Sie."
Die Regierungschefin des baltischen Staates Estland, Kaja Kallas, sprach sich im DW-Interview dafür aus, dass die Europäische Union jetzt schneller auf eine Mitgliedschaft der Ukraine zusteuern sollte. Wenn sich die Tür der NATO schließe, dann müsse sich die Tür der EU weiter öffnen. "Ich würde es unterstützen, wenn die Ukraine ein stärkeres europäisches Signal, eine stärkere europäische Antwort bekommen würde", sagte Kallas.
Diplomatie geht weiter
Selbst die Anerkennung von Luhansk und Donezk oder ein militärisches Vorgehen wären nicht das Ende der Diplomatie, meinte der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis. "Wir wollen keinen Krieg", sagte er, "die Türen für Diplomatie sind niemals geschlossen. Selbst wenn es zum Krieg kommt, gibt es immer die Möglichkeit für Kontakte. Aber der Aggressor muss zeigen, dass er bereit ist, sich zurückzuziehen."