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Ruanda-Roman: "Das lärmende Schweigen"

Sabine Peschel21. Juni 2015

In Gilbert Gatores Roman zum Völkermord in Ruanda, der jetzt für den Internationalen Literaturpreis 2015 vorgeschlagen wurde, geht es nicht um Antworten. Es geht darum, Fragen aufzuwerfen und Traumata spürbar zu machen.

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Autor Gilbert Gatore
Bild: Getty Images/AFP/F. Tanneau

Literatur muss keine Erklärungen liefern, vielleicht kann sie es nicht einmal, sie stellt Fragen. Aber was sie kann, ist einen Raum zu schaffen, in dem Menschen - Leser - sich in fremde Menschen und andere Verhältnisse hineinversetzen können, ohne direkt urteilen oder handeln zu müssen. Der Debütroman des ruandisch-französischen Autors Gilbert Gatore leistet das, indem er den Völkermord in Ruanda in einer Doppelperspektive zum Thema macht: die des Täters und die des Opfers. Das Schweigen, das die Folgen des Genozids von 1994 umgibt, als in Ruanda innerhalb von einhundert Tagen fast eine Million Menschen umgebracht wurden, wird im Raum der Fiktion gebrochen.

Traumata aufbrechen

Eines Morgens dreht Isaro aus Versehen ihr Radio zu laut auf, so dass eine Meldung aus Ruanda unüberhörbar wird. Es würde Jahrzehnte dauern, wollte man jeden einzelnen der Täter des Genozids vor Gericht stellen, heißt es darin. Diese Nachricht trifft die erfolgreiche Pariser Studentin, die sich bis dahin nie für ihre Kindheit und die Geschehnisse in ihrem ruandischen Vaterland interessiert hat, mit unerklärlicher Macht. Völlig aus der Bahn geworfen, bricht sie den Kontakt zu ihren französischen Adoptiveltern, zu Freunden und Kommilitonen ab. Sie ist wie gelähmt, mag nicht mehr das "brillante Mädchen" sein, auf das ihre Eltern so stolz waren, bis ein Gedanke von ihr Besitz ergreift: Sie möchte möglichst vielen Menschen in Ruanda Gelegenheit geben, ihre Erfahrungen von 1994 zu Protokoll zu geben. Die Aussichten für ihr Projekt stehen gut, eine Stiftung macht ihr Hoffnung, dass sie die Dokumentation finanzieren wird. Doch voller Ungeduld wartet die junge Frau die Entscheidung nicht ab, sondern fährt ohne Mittel oder detaillierte Vorbereitung zum ersten Mal seit ihrer Rettung 1994 nach Ruanda.

Ruanda Völkermord 1994
Schmerzvolles Ruanda 1994Bild: picture-alliance/AP Photo/J.-M. Bouju

Unklare Rollen: Opfer und Mörder

Für den Leser beginnt damit die gleich zu Beginn des Romans in direkter Ansprache versprochene "unerträgliche Reise". Denn hier, wie sich erst später im Text herausstellt, wird der Leser zu Beginn schon von Niko angesprochen, dem Täter. Niko ist stumm und hässlich, seine Gesichtszüge sind starr, so dass er nicht einmal lächeln kann. Als einziger kümmert sich sein Onkel, der Dorfschmied, um ihn, der Junge vegetiert eher, als dass er lebt. Sein einziger Gefährte ist ein Zicklein, dem er seinen eigenen Name gibt und dem er, der Stumme, das Sprechen beibringen möchte. Der Dorfgemeinschaft ist die symbiotische Nähe zwischen Mensch und Tier ungeheuer. Nikos Onkel tötet die Ziege mit einem Schlag ins Genick. Der Junge ist "noch lange danach davon gekennzeichnet, dass er dem Mord beigewohnt hatte". Niko wird zum Täter, der stets Verachtete schließt sich den Mörderbanden nicht nur an, sondern wird einer der voller Lust tötenden Anführer. Die bluttriefende Machete wird seine Stimme.

Nikos Geschichte wird parallel und ineinander verwoben zu der Isaros erzählt, und in beiden Erzählsträngen rückt der Massenmord von 1994 immer deutlicher in den Fokus. Es zeigt sich aber auch immer deutlicher die daraus resultierende Traumatisierung, und zwar bei beiden, auch die des Täters. Während sich Isaro dem gegenwärtigen Ruanda immer mehr nähert und in einem sanften Liebesverhältnis ein Zuhause findet, versetzen sie die leisen Berichte der Zeugen der Vergangenheit immer stärker in Ruandas grausame Vergangenheit und in eine immer tiefere Depression, die schließlich, erzähltechnisch etwas unvermittelt, mit ihrem Selbstmord endet. Nikos Figur wirkt daneben immer unwirklicher, Traumsequenzen und surreal anmutende, mythische Vorstellungen, die mit ihr verknüpft werden, schaffen eine andere literarische Ebene, die sich - ohne zu viel verraten zu wollen - am Ende als Fiktion in der Fiktion, als Buch im Buch entlarvt.

Gatores Heimat, die Vulkanlandschaft in der Nähe von Ruhengeri
Gatores ursprüngliche Heimat, die Vulkanlandschaft in der Nähe von RuhengeriBild: Imago/McPHOTO/Zandbergen

Die Frage von Leid und Schuld

Gilbert Gatore wurde 1981 in der Distrikthauptstadt Ruhengeri im Nordwesten von Ruanda geboren und lebt heute in Paris. Als Jugendlicher musste er mit seinen Eltern aus Ruanda fliehen. Umso grotesker ist es, dass ihm nach Erscheinen seines Romans vorgeworfen wurde, dass er zu viel Verständnis für die Täterperspektive aufbringe. Sogar die Behauptung, er selber sei der Sohn eines ruandischen Massenmörders, wurde in die Öffentlichkeit gebracht. Allein das schon zeigt, wie schwierig es ist, der Frage nachzugehen, wie ein Täter mit seiner Schuld und ein Opfer mit seinem Trauma weiterleben kann, indem man ihre Innenwelten erkundet. Dass Gatore es mit "kühlem Pathos" (so die Jurorin Iris Radisch) gewagt hat, war der Jury des Internationalen Literaturpreises eine Nominierung für die Shortlist wert.

Buchcover: "Das lärmende Schweigen"
Buchcover

Gilbert Gatore: "Das lärmende Schweigen", aus dem Französischen von Katja Meintel, Horlemann Verlag 2014; "Le Passé devant soi", éditions Phébus, Paris 2008