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KonflikteRuanda

Ruanda gedenkt der Opfer des Völkermords von 1994

Isaac Mugabi Kigali
5. April 2024

Am 7. April jährt sich zum 30. Mal der Völkermord an fast einer Million Tutsi und gemäßigten Hutu 1994 in Ruanda. Nicht nur die Narben auf den Körpern der Überlebenden erinnern an die Gewalt.

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Ruanda Totenschädel und Knochensammlung von dem Völkermord in Ruanda
Wer sich den Hutu-Extremisten in den Weg stellte, wurde ermordetBild: SIMON MAINA/AFP

Mehr als eine Million Menschen wurden in Ruanda 1994 zu Opfern - vor allem Angehörige der ethnischen Minderheit der Tutsi, aber auch gemäßigte Angehörige der Hutu-Mehrheit, die versuchten, die Tutsi zu schützen. Während eines 100-tägigen Massakers, das am 7. April begann, wurden sie systematisch von Hutu-Extremisten ermordet

Die Vereinten Nationen organisieren Veranstaltungen, um der Opfer zu gedenken und die Überlebenden zu ehren: "Wir werden die Opfer dieses Völkermordes niemals vergessen", sagte UN-Chef Antonio Guterres in einer Erklärung. "Ebenso wenig werden wir jemals den Mut und die Widerstandskraft derer vergessen, die überlebt haben."

Familienmassaker: ein persönliches Schicksal

Freddy Mutanguha, ein Tutsi, ist einer der Überlebenden. Zum Zeitpunkt des Völkermords war er 18 Jahre alt. Er hatte gerade Schulferien und war in seinem Heimatdorf in der Nähe der Stadt Kibuye, rund 130 Kilometer von Ruandas Hauptstadt Kigali entfernt. Hutu-Extremisten machten dort Jagd auf junge Männer, weil sie sie verdächtigten, mit der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) zu sympathisieren, einer hauptsächlich von Tutsi geführten Rebellengruppe unter Paul Kagame, der später Ruandas Präsident werden sollte.

Ruandas Präsident Pasteur Bizimungu (links, im Anzug und Sonnenbrille) und Verteidigungsminister Paul Kagame (rechts, in Militäruniform) sitzen lachend Seite an Seite, die Blicke einander zugewandt, Ellbogen aufgestützt
Rebellenführer Paul Kagame, dessen RPF den Völkermord in Ruanda beendete, galt schon früh als eigentlicher Machthaber - hier im Juli 1994 mit Präsident Pasteur BizimunguBild: epa/dpa/picture alliance

Da sie das Schlimmste für ihren Sohn befürchtete, riet ihm seine Mutter, sich im Haus einer Hutu-Familie zu verstecken, deren Sohn mit ihm zur Schule gegangen war. Während Freddy Mutanguha bei seinem ehemaligen Schulfreund in Sicherheit war, musste seine Familie, die sich in einem nahe gelegenen Ort aufhielt, zu anderen Methoden greifen: Um am Leben zu bleiben, bestach sie eine Gruppe von Hutu-Extremisten mit Geld und Alkohol.

Doch am 14. April ging der Familie das Geld aus. Das hatte dramatische Folgen: Die Extremisten ermordeten Freddys Eltern und vier seiner Schwestern - 4, 6, 11 und 13 Jahre alt - auf brutale Weise. "Ich konnte die Schreie meiner Geschwister hören, als sie erbarmungslos getötet wurden", erinnert sich Mutanguha im Gespräch mit der DW. "Sie flehten ihre Angreifer an, ihr Leben zu verschonen, und versprachen, nie wieder Tutsi zu sein, aber vergeblich. Sie warfen meine Schwestern in eine nahegelegene Grube - einige waren noch am Leben - und töteten sie mit Steinen. Meine Eltern wurden mit Macheten hingerichtet."

Nur eine einzige Schwester, Rosette, konnte entkommen und überlebte. Die Mörder suchten auch nach Freddy - er blieb die ganze Zeit in seinem Versteck. "Es wäre Selbstmord gewesen, wenn ich es verlassen hätte", so Mutanguha gegenüber der DW. Neben seinen Eltern und den vier Schwestern hat er durch den Völkermord mehr als 80 Mitglieder seiner Großfamilie verloren.

Fotos von oft jungen Ruanderinnen und Ruandern hängen an Drahtseilen
Das Kigali Genocide Memorial, das Mutanguha leitet, will die Erinnerung an die Völkermordopfer wachhaltenBild: Ben Curtis/AP Photo/picture alliance

Einige der Mörder von Mutanguhas Angehörigen wurden im Rahmen eines Vergleichs freigelassen. Dieser ermöglichte es den Tätern, nur die Hälfte ihrer Strafe zu verbüßen, wenn sie den Staatsanwälten dafür wichtige Informationen über die Verdächtigen und die Orte lieferten, an denen die Leichen beseitigt worden waren.

Freddy Mutanguha war früher der Vizepräsident von IBUKA, einer Gruppe für ruandische Überlebende des Völkermords. Heute ist er Direktor des Kigali Genocide Memorial, der Gedenkstätte für den Völkermord in Ruandas Hauptstadt - dort sind die Überreste von rund 250.000 Opfern begraben.

Ein schwieriger Heilungsprozess für Überlebende

Trotz der Bemühungen Ruandas, die Versöhnung zwischen Überlebenden und Tätern voranzutreiben, ist der Weg zur Heilung der tiefen Wunden für Menschen wie Mutanguha oder seine Schwester äußerst steinig. "Die Täter sagen oft nicht die ganze Wahrheit. Das behindert die Versöhnungsbemühungen und ist für die Überlebenden beunruhigend", sagt er.

Einer der Mörder seiner Familie zum Beispiel habe viele Informationen zurückgehalten, erklärt er. "Er wurde freigelassen, nachdem er 15 der 25 Jahre, zu denen er verurteilt worden war, abgesessen hatte - und das nur wegen der spärlichen Informationen, die er den Staatsanwälten mitgeteilt hatte", bedauert Mutanguha. "Wir müssen damit leben - denn unsere Angehörigen werden nie wieder zurückkommen."

Trotzdem habe sein Land bedeutende Fortschritte gemacht, räumt Mutanguha ein - eine Ansicht, die er mit Phil Clark teilt. Der Professor für internationale Politik an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) hat die Entwicklungen in Ruanda in den letzten 20 Jahren erforscht. 

"Ruanda hat enorme Fortschritte bei der Versöhnung nach dem Völkermord gemacht, wenn man bedenkt, dass Hunderttausende verurteilte Völkermord-Täter heute wieder in denselben Gemeinden leben, in denen sie ihre Verbrechen begangen haben - Seite an Seite mit Überlebenden des Völkermords", so Clark gegenüber der DW. "Die meisten dieser Gemeinschaften sind friedlich, stabil und produktiv." Viele Kommentatoren hätten vorausgesagt, dass Ruanda nach dem Völkermord weitere Zyklen der Gewalt durchlaufen würde - so wie es in den meisten Nachbarstaaten der Fall sei. Doch dem Land sei es gelungen, dieses Schicksal zu vermeiden.

Wie soziale Medien die Versöhnung behindern

Die Überlebenden mussten ihre Gefühle überwinden und mit den Tätern zusammenarbeiten, sagt Mutanguha. Der größte Stolperstein für die Einheit seien die Ruanderinnen und Ruander in der Diaspora: "Sie sind berüchtigt dafür, spaltende Informationen auf sozialen Medien zu verbreiten und an ihre Familien in der Heimat weiterzugeben. Das behindert die Versöhnungsbemühungen - insbesondere unter der Jugend, die nur wenig über die Geschehnisse vor 30 Jahren weiß", so Mutanguha.

Ruandas traumatisierte Männer

Tatsächlich hatten Jahrzehnte der interethnischen Spannungen und Gewalt schon vor dem Völkermord von 1994 mehrere Migrationswellen zur Folge. Viele der Vertriebenen sind nie zurückgekehrt. Die größte Herausforderung für die Versöhnung liege in der ruandischen Diaspora, sagt auch Politikwissenschaftler Clark - also bei den Menschen, die gar nicht selbst an den wichtigen Versöhnungsprozessen in ihrem Heimatland teilgenommen haben. "Die zerstörerischste interethnische Dynamik findet derzeit unter der ruandischen Bevölkerung in Nordamerika, Westeuropa und anderen Teilen Afrikas statt", so Clark. "Diese wirkt auf Ruanda selbst zurück. Die nächste entscheidende Phase der Versöhnung muss in den Gemeinschaften außerhalb Ruandas stattfinden."

Repatriierung ruandischer Flüchtlinge

Die Versöhnung sei ein noch weit entfernter Traum, sagt Victoire Ingabire Umuhoza, die prominenteste Kritikerin von Präsident Paul Kagame. Um sie wirklich zu erreichen, müssten alle ruandischen Flüchtlinge weltweit in die Heimat zurückgeholt werden, findet sie. "Es gibt immer noch viele ruandische Flüchtlinge, vor allem in den Nachbarländern, die repatriiert werden müssen, damit eine echte Versöhnung stattfinden kann", sagte Ingabire in einer Neujahrsbotschaft auf dem YouTube-Kanal ihrer Partei. "Wir leben in Frieden - aber die Versöhnung ist immer noch gering und es herrscht ein tiefes Misstrauen unter den Ruandern", so Ingabire.

"Die ruandische Regierung ist auch besorgt über die Flüchtlinge in den Nachbarländern, die sich entschieden haben, zu den Waffen zu greifen und gegen sie zu kämpfen. Dieses Problem wird niemals enden, wenn wir, die wir im Land sind, uns nicht zuerst vereinen und versöhnen." Ingabire bezog sich dabei auf die Rebellen der Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (FDLR), einer ethnischen Hutu-Rebellengruppe.

Menschen in Uniformen sitzen auf einem Panzer, dicht gedrängt darum laufen Flüchtlinge mit Bündeln auf den Köpfen und Uniformierte
Viele Täter des Völkermords flüchteten sich 1994 ins benachbarte Zaire (heute Kongo)Bild: dpa/picture alliance

Ruandas Präsident Paul Kagame betrachtet die FDLR seit Langem als eine existenzielle Bedrohung für sein Land. Die Gruppe wurde von den USA als terroristische Organisation eingestuft. Die anhaltende Existenz der FDLR, die angeblich von der Regierung im benachbarten Kongo geduldet wird, hat zu Anschuldigungen geführt, dass Ruanda konkurrierende Rebellengruppen wie die M23-Bewegung unterstützt. Ruanda bestreitet, die M23 zu unterstützen.

Das jüngste Wiederaufflammen der Kämpfe im Osten der DR Kongo hat zu ernsthaften Spannungen zwischen Kigali und Kinshasa geführt - einschließlich der Androhung eines Krieges durch den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi.

All das deutet darauf hin, dass die Lücken im Versöhnungsprozess auch 30 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die gesamte Region darstellen.

Ein langer Weg: Annäherung, Sinneswandel, Hoffnung

Die Regierung, die Zivilgesellschaft und die Bürger haben zahlreiche Anstrengungen unternommen, um die Ideologie des Völkermords hinter sich zu lassen - doch nicht alle haben den für eine Annäherung erforderlichen Sinneswandel vollzogen.

Wöchentliche Dialogclubs und Vereinigungen auf Gemeindeebene, in denen die Menschen über vergangene und gegenwärtige Konflikte diskutieren, haben den Ruandern entscheidend dabei geholfen, zu heilen und sich positiv zu entwickeln. Die Situation sei heute viel positiver als noch vor fünf oder zehn Jahren, sagt Politikwissenschaftler Clark. "Aber die meisten Ruander, mit denen ich spreche, sagen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt."

Freddy Mutanguha weist darauf hin, wie wichtig es ist, weltweit des ruandischen Völkermords zu gedenken: "Die Erinnerung an die Geschehnisse in Ruanda vor 30 Jahren sollte nicht nur für die Tutsi gelten, die den Völkermord überlebt haben, sondern für die ganze Welt. Um daraus zu lernen - denn es war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit."

Kolonialismus und der Völkermord in Ruanda

Übersetzung aus dem Englischen: Nikolas Fischer