Selenskyj und seine Reden in Zeiten des Krieges
3. Juni 2022Als Wolodymyr Selenskyj 2019 das Präsidentenamt übernahm, wurde er von vielen aufgrund seiner Karriere als Comedian und Schauspieler belächelt, wenige trauten ihm die Führung des Landes zu. Drei Jahre später sieht es ganz anders aus: Wolodymyr Selenskyj redet per Videoübertragung auf dem Filmfest in Cannes, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, in zahlreichen Parlamenten weltweit. Seine Worte sind gut gewählt, passen sich dem Narrativ des jeweiligen Landes an, und zwar bildlich, emotional, mehr noch: Er redet ins Gewissen. Und das seit über 100 Tagen. Fast täglich. Auf allen möglichen Kanälen.
Selenskyj: "Jemand lügt"
Noch vor dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine am 24. Februar standen die Zeichen auf Krieg. "Wir tragen eine große europäische Sehnsucht in uns. Wir wollen Freiheit, und wir sind bereit, für sie zu kämpfen", sagte Wolodymyr Selenskyj am 14. Februar in einer Rede an das ukrainische Volk, das im Osten seines Landes bereits seit Ende 2013 den Provokationen Russlands ausgesetzt ist. Die Ukrainer wüssten, was kommt, der Westen glaube noch an Wunder, so Selenskyj.
Diesen Glauben an ein Wunder wollte der ukrainische Präsident nur fünf Tage später auf der 58. Münchener Sicherheitskonferenz zerschlagen. "Die Ukraine will Frieden. Europa will Frieden. Die Welt sagt, dass sie keinen Krieg führen will, und Russland sagt, dass es keinen Angriff unternehmen wird. Jemand lügt", sagt Selenskyj am 19. Februar in München. Er mahnt, wie er schon bei mehreren anderen Gelegenheiten mahnte, dass die Annexion der Krim und der Krieg in Donbass Auswirkungen auf die ganze Welt haben werden. "Das ist nicht nur ein Krieg in der Ukraine, sondern auch ein Krieg in Europa. (…) Wird die Welt mich im Jahr 2022 hören? Bisher ist uns stattdessen nur Schweigen entgegengeschlagen. Und solange das Schweigen anhält, wird es im Osten unseres Staats keine Stille geben."
Informationen wurden ignoriert
Doch die Appelle des ukrainischen Präsidenten wurden lange Zeit nicht wahrgenommen: "Selbst dann als die russischen Truppen an den Grenzen zur Ukraine aufmarschiert sind und als US-amerikanische und britische Geheimdienste immer wieder gesagt haben, die Invasion werde aller Voraussicht nach bald beginnen, selbst dann haben offenbar viele das nicht ernst genommen", sagt Franziska Davies, Osteuropa-Expertin und Historikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Viele Politiker, gerade auch in Deutschland, haben die Informationen, die seit Jahren, ja Jahrzehnten muss man sagen, auf dem Tisch lagen, einfach ignoriert. Aus wirtschaftlichen Interessen, aus Blindheit, aus Unwillen… Es ist schwer, genau nur einen Grund festzumachen", sagt Franziska Davies.
Nur fünf Tage nach seiner Münchener Rede, am Morgen des 24. Februar, überschreitet die russische Armee die ukrainische Grenze an vier Fronten. Selenskyj meldet sich zu Wort und appelliert erneut an die Weltgemeinschaft: "Wenn Sie, liebe europäische Führer, liebe Weltführer, Führer der freien Welt, wenn Sie uns heute nicht helfen, wird der Krieg morgen an Ihre Tür klopfen."
Gesicht zeigen, klare Worte sprechen
Während sich Putin meist hinter langen Tischen, in Anzug und nur selten an sein Volk wendet, spricht Selenskyj fast täglich zu den Ukrainerinnen und Ukrainern, aber auch an das russische Volk wendete er sich in mehreren Statements: "Allen Bürgern der Russischen Föderation, die auf die Straße gehen, um zu protestieren, möchte ich sagen: Wir sehen Sie. Es bedeutet, dass Sie uns gehört haben. Es bedeutet, dass Sie beginnen, uns zu vertrauen. Kämpfen Sie für uns. Kämpfen Sie gegen den Krieg", sagt der ukrainische Präsident am selben Tag, an dem Putin erneut im Staatsfernsehen seine Absicht erklärt, die Ukraine zu "entnazifizieren".
"Putin nutzt eine Heldenrhetorik, wir gegen die Anderen, ein eindeutiger Feind, aber Menschen kommen in seinen Reden im Prinzip nicht vor. Verlust, Tod, Trauer, all diese Dinge, die einen Krieg zum Krieg machen, kommen nicht vor", sagt Osteuropa-Expertin Davies. Und letztendlich habe Putin - wie etwa auf der Rede zum 9. Mai - nicht so deutlich klar gemacht, wozu jetzt dieser Krieg in Donbass überhaupt geführt werde. Anders Selenskyj, der immer wieder Bezug auf die Menschen nehme, die im Krieg fallen, die sterben, die verletzt sind. Er gebe dem Krieg ein menschliches Gesicht, sagt Franziska Davies.
Selenskyj sucht den direkten Dialog auch zu der russischen Armee, deren niedrige Kampfmoral und Motivation ein Problem für Putin darstellen könnte. Der ukrainische Präsident nutzt diese Erkenntnis und fordert am 15. März die russischen Soldaten auf, die Waffen niederzulegen:
"Russische Wehrpflichtige, hört mir gut zu! Russische Offiziere! Ihr habt bereits alles verstanden. Ihr werdet der Ukraine nichts wegnehmen. Ihr werdet einigen von uns das Leben nehmen. Es gibt viele von euch. Aber auch euer Leben wird genommen werden. Doch warum solltet ihr sterben? Wozu? Ich weiß, dass ihr überleben wollt. Wir hören in den abgehörten Gesprächen, was ihr wirklich über diesen sinnlosen Krieg, über diese Schande, über euren Staat denkt. (…) Wenn ihr euch unseren Streitkräften ergebt, werden wir euch so behandeln, wie Menschen behandelt werden sollten: anständig, als Menschen. So wie ihr in eurer Armee nicht behandelt werdet. Und so, wie eure Armee die unsere nicht behandelt. Ihr habt die Wahl!"
Reden vor den Parlamenten der Welt
Ob im Deutschen Bundestag, im französischen Parlament, vor dem US-Kongress oder vor der japanischen Nationalversammlung - Wolodymyr Selenskyj sucht die Öffentlichkeit und die Parlamente laden ihn ein - sie wollen Solidarität zeigen, zumindest symbolisch. Doch Selenskyj fordert mehr als Lippenbekenntnisse, er fordert Politikerinnen und Politiker sowie die Wirtschaft heraus und insistiert auf ein Gasembargo, das er als ein "Gebot der Moral" bezeichnet.
Besonders kritisch und direkt ist seine Ansprache im Deutschen Bundestag am 17. März: "Ich wende mich an Sie nach zahlreichen Treffen, Verhandlungen, Erklärungen und Bitten. Nach Schritten zur Unterstützung, die zum Teil überfällig waren. Nach Sanktionen, die offensichtlich nicht ausreichen, um den Krieg zu stoppen. Und nachdem wir gesehen haben, wie viele Verbindungen Ihre Unternehmen weiterhin mit Russland unterhalten. Mit einem Staat, der Sie und einige andere Staaten benutzt, um den Krieg zu finanzieren."
Bezüge zu historischen Narrativen
Selenskyj spricht von einer neuen Mauer zwischen Freiheit und Unfreiheit, die immer stärker werde mit jeder Bombe, die auf ukrainischem Boden fallen würde. Der Präsident nutzt die Geschichte, das historische Narrativ des jeweiligen Staates, und hinterlässt durch seine Reden einen nachhaltigen Eindruck im öffentlichen Diskurs. Ich wende mich an Sie im Namen aller, die die Politiker beteuern hörten: 'Nie wieder!' Und die gesehen haben, dass diese Worte nichts wert sind. Denn erneut versucht man in Europa, ein ganzes Volk zu vernichten. Alles zu vernichten, von dem und für das wir leben."
Während er die zögerliche Haltung der deutschen Politik offen anprangert, dankt er in seinen Reden anderen Staatschefs für die Unterstützung: "Und mein besonderer Dank gilt dir, Boris, mein Freund!", so etwa beendet er seine Rede im britischen Parlament.
Symbolfigur Selenskyj gibt Hoffnung und Orientierung
"Selenskyj ist zu einer Symbolfigur geworden. Er macht eine sehr geschickte Öffentlichkeitsarbeit. Und das darf man überhaupt nicht unterschätzen. Ich finde es immer etwas vermessen, wenn dann aus Deutschland der Vorwurf kommt, er würde sich inszenieren. Für die Menschen, die im Krieg sind, ist das sehr wichtig. Das gibt Hoffnung und Orientierung", sagt Franziska Davies.
Dagegen sei die deutsche Symbolpolitik gescheitert. "Während Boris Johnson nach Selenskyjs Rede eine fulminante Rede gehalten hat, die ähnlich eindeutig war und im guten Sinne pathetisch, ist der deutsche Bundestag zur Tagesordnung übergegangen."
Nach wie vor informiert Selenskyj täglich über alle Kanäle. Auch am 3. Juni, 100 Tage nach dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine, dankt er in einer Videobotschaft den USA und Schweden für die Unterstützung. In einer weiteren Botschaft schreibt er: "Wir brauchen kein falsches Händeschütteln nur des Protokolls wegen, kein falsches Lächeln nur für die Etikette, keine falschen Worte aus Gewohnheit."
In dem Buch "Für die Ukraine - für die Freiheit", das am 29. Mai im Ullstein-Verlag erschienen ist, sind die Ansprachen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nachzulesen. Der Gewinn aus dem Verkauf fließt an Hilfsorganisationen für die Ukraine.