Donbass: Lyssytschansk unter Beschuss
28. Mai 2022Nach Lyssytschansk muss man mit maximaler Geschwindigkeit fahren. Auf der Straße, die in die Stadt führt, wird man mit Sicherheit keine Strafe wegen zu schnellen Fahrens bekommen. Aber wer zu langsam fährt, riskiert, anders bestraft zu werden, und zwar mit einem russischen Geschoss. Denn die Strecke von Bachmut, die wegen ihrer humanitären Bedeutung "Straße des Lebens" genannt wird, wollen die Russen um jeden Preis unter ihre Kontrolle bekommen. Ihr Ziel ist, Lyssytschansk und das benachbarte Sewerodonezk vom Rest der Ukraine abzuschneiden.
Die gespenstisch leeren Straßen der Industriestadt, in der vor Russlands Angriff auf die Ukraine 100.000 Menschen lebten, erinnern an die Stadt Prypjat nach der Havarie im Atomkraftwerk Tschernobyl, mit dem Unterschied, dass es in Prypjat keine Zerstörungen gab. In Lyssytschansk hingegen sind an jeder Ecke durch Beschuss beschädigte oder zerstörte Geschäfte und Wohnhäuser zu sehen.
Die Sirenen des Luftalarms, die in den ukrainischen Städten von Kramatorsk bis Lwiw täglich zu hören sind, sind in Lyssytschansk längst verstummt, denn es gibt keinen Strom mehr. Aber die Stadt wird ständig unvorhersehbar mit Artillerie beschossen. Jederzeit und überall kann ein Geschoss einschlagen. Gewarnt werden die Menschen ausschließlich durch die Explosionen selbst, was ihnen aber keine Zeit lässt, sich in einen Luftschutzkeller zu retten. Es gilt nur noch die Regel: Wenn man ein Pfeifen oder eine Explosion hört, sollte man sich sofort auf den Boden legen.
Ausharren ohne Strom und Wasser
Der einzige noch belebte Ort in Lyssytschansk ist das Humanitäre Zentrum. Vor und in dem Gebäude befinden sich ein paar Dutzend meist ältere Menschen. Manche warten auf den Bus zur Evakuierung, andere auf Trinkwasser. Die Wasser-, Strom- und Gasversorgung funktioniert nicht mehr. Auch das Mobilfunknetz ist zusammengebrochen.
Wira Pawliwna wartet schon seit mehreren Stunden auf den Wagen mit Trinkwasser, denn Lieferungen kommen nur alle zwei bis drei Tage. "Es ist sehr beängstigend, immer dieses Donnern über unseren Köpfen. Das ist doch kein Leben mehr, wir sitzen in Kellern, nur tagsüber gehen wir mal raus", klagt die 75-Jährige.
Wie die meisten Einheimischen vermeidet sie, über Politik zu sprechen. Die Menschen fürchten sich vor Verfolgung, sollte die Stadt von den Russen eingenommen werden. "Genug, man wird mich noch hinrichten, damit ich nicht mehr quatsche", sagt sie scherzhaft und fängt plötzlich an zu weinen: "Wer kümmert sich dann um die Katze, das ist doch die Katze meiner Kinder!"
Freude über Besuch im Keller
Wiras Kinder sind in die Stadt Dnipro geflohen. Ihre Mutter konnten sie nicht zur Evakuierung überreden. Sie fragt: "Wovon soll ich da leben, von meiner Rente etwa? Wenn ich dort eine Wohnung miete, was bleibt mir dann noch?"
In Lyssytschansk leben noch etwa 20.000 Menschen. Im benachbarten Sewerodonezk, das am anderen Ufer des Flusses Siwerskyj Donez liegt und noch viel stärker unter Beschuss steht, harren noch 12.000 bis 13.000 Einwohner aus. Dies sind ungefähre Schätzungen der örtlichen Behörden und von Freiwilligen, denn es ist unmöglich, die Zivilisten zu zählen, die sich in Kellern verstecken.
Viele von ihnen sind Rentner. Doch in einem Luftschutzkeller sind plötzlich auch kleine Kinder anzutreffen. Ein Junge, der vermutlich nicht älter als fünf Jahre ist, bietet beharrlich Süßigkeiten aus humanitären Hilfspaketen an. Nach drei Monaten im Keller freuen sich die Kinder über jeden Besuch.
Doch was machen sie hier die ganze Zeit? "Wir malen und machen unsere Hausaufgaben", sagt ein Mädchen, deren Augen vom Leben im Dunkeln entzündet sind. Ein Junge sagt: "Wenn es wieder Licht gibt, dann werden wir wieder Mathematik- und Ukrainisch-Unterricht haben." Die Kinder sagen, ihre Eltern hätten sich gegen eine Evakuierung entschieden, weil sie nicht wüssten, wo es zurzeit sicher ist.
Es kommen kaum Lebensmittel in die Stadt
Tausende Zivilisten, die in Lyssytschansk und Sewerodonezk ums Überleben kämpfen, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Wenn Lebensmittel angeboten werden, dann nur gegen Bargeld, aber das ist schwer zu beschaffen, denn die Geldautomaten in der Stadt funktionieren ohne Strom nicht mehr.
Immer schwieriger wird es auch, überhaupt Lebensmittel heranzuschaffen. LKW-Fahrer fürchten nämlich, unter Beschuss zu geraten. Die "Straße des Lebens" von Bachmut nach Lyssytschansk wird zwar nicht von russischen Truppen kontrolliert, es gibt aber Saboteure. Auch alternative Strecken sind riskant, da die Straßen teilweise unbefestigt sind.
So gibt es immer weniger Möglichkeiten, Lyssytschansk und Sewerodonezk mit Nahrungsmitteln zu versorgen und Menschen zu evakuieren, sagt der Militärgouverneur des Gebietes Luhansk, Serhij Hajdaj: "Wir haben drei Monate lang versucht, die Leute zum Weggehen zu bewegen, weil die Russen diese Städte zerstören werden", klagt er und betont: "Dies ist eine Evakuierung, keine Deportation." Ihm zufolge ist immer noch möglich, die Stadt zu verlassen: "Selbst wenn nur zehn Personen um eine Evakuierung bitten, werden wir versuchen, sie herauszuholen, weil sie unsere Bürger sind, sie sind Ukrainer."
"Das ist mein Donbass"
Derzeit gelingt es nur alle paar Tage, wenige Dutzend Einwohner aus Städten und Dörfern in der Region Luhansk herauszuholen. Eine kleine Gruppe von Menschen, die gehen wollen, treffen wir im Humanitären Zentrum von Lyssytschansk. Die meisten warten drinnen auf den Bus. Freiwillige befürchten nämlich, dass größere Menschenmengen auf der Straße russischen Artilleriebeschuss provozieren könnte.
Dennoch stehen mehrere Personen auf der Straße. Sie wurden bereits aus Bilohoriwka herausgeholt, wo heftig gekämpft wird. Auf das ständige Donnern der Explosionen reagieren sie gar nicht mehr. "In Lyssytschansk ist es noch vergleichsweise ruhig", sagt ein Mann aus der Gruppe. Auf die Frage, warum sie sich erst jetzt zur Evakuierung entschieden habe, sagt die Rentnerin Halyna: "Wir dachten, das alles würde schon an uns vorbeiziehen. Aber jetzt haben wir Angst. Wir wollen doch leben!"
Halyna steht eine gefährliche Fahrt nach Bachmut bevor. Diejenigen, die in Lyssytschansk zurückbleiben, müssen endlosen Beschuss und ein Leben ohne Wasser und Nahrung ertragen. Auch mit einer russischen Besetzung ihrer Heimat müssen sie rechnen. Doch einige Menschen verlieren nicht einmal angesichts dieser Zustände und Aussichten ihren Optimismus. Eine Frau, die einen Luftschutzkeller verlassen hat, um frische Luft zu schnappen, möchte, dass den ukrainischen Soldaten folgende Nachricht überbracht wird: "Sagt unseren Jungs, sie sollen alle hier zur Hölle jagen, unsere Verteidiger müssen uns beschützen. Das ist mein Donbass, ich bin hier geboren, alles wird gut."
Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk