Rassismus bei deutscher Polizei: ein strukturelles Problem?
9. September 2024Rassismus-Vorwürfe ist die Polizei in Deutschland gewohnt. Manche sprechen von Einzelfällen, andere von einem grundsätzlichen Problem. Inzwischen gibt es dazu einige Untersuchungen, ohne eindeutigen Befund. Astrid Jacobsen und ihr Team von der Polizeiakademie Niedersachsen haben für ihre jetzt veröffentlichte Studie hinter die Kulissen geschaut. Dabei haben sie Polizistinnen und Polizisten über einen Zeitraum von zwei Jahren mehrmals wochenlang bei ihrer Arbeit begleitet.
Sie saßen mit im Einsatzauto, am Tisch im Polizeirevier und waren immer wieder vor Ort. Dort, wo es auch gefährlich werden kann: wenn die Polizei wegen häuslicher Gewalt zu Hilfe gerufen wird, zu Tötungs- und Einbruchsdelikten ermittelt oder Fußballspiele begleitet.
Es gibt nicht "die Polizei"
"Also eine enorme Bandbreite mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen und eben auch ganz unterschiedlichen Arbeitsweisen", sagt Jacobsen bei einem Pressegespräch des Berliner Mediendienstes Integration. "Die Polizei" gebe es also nicht, betont die Professorin. "Man muss sich schon sehr konkret angucken, worum es eigentlich geht."
Das Forschungsteam hat sich komplexe Arbeitsprozesse angeschaut und gefragt: "An welchen Stellen wird Diskriminierung gefördert oder ist sie naheliegend? Das kann auch durchaus ohne Absicht der Polizeibeamten und -beamtinnen passieren", betont Jacobsen. Besonders schwierig ist die Ausgangslage nach ihren Eindrücken bei anlasslosen Kontrollen, weil diese nicht auf Hinweisen aus der Bevölkerung beruhen.
Eine typische Polizei-Frage: "Wo kontrollieren wir?"
Für die Polizei bestehe die Herausforderung darin, selbst zu entscheiden: "Wo fahren wir hin? Wo gucken wir? Und wo kontrollieren wir?" Jacobsen nennt ein Beispiel, bei dem sie und ihr Team dabei waren: "Wir konnten beobachten, wie pauschal gesucht wurde nach Albanern, die mit Kokain handeln. Diese Pauschalisierung steuert dann die Beobachtung." Nur das Verhalten der in den polizeilichen Fokus gerückten Personen habe eine Rolle gespielt, kritisiert Jacobsen. Denn: "Alle anderen werden eben nicht beobachtet."
Zum Alltag der Polizei gehören Bedrohungslagen, in denen die eingesetzten Beamtinnen und Beamten schlimmstenfalls um Gesundheit und Leben bangen müssen. Dann werde oft nicht mehr geguckt, wie die Situation vor Ort sei, wenn sogenannte ethnische Gefahrentrigger dazu kämen, sagt Jacobsen. Darunter versteht sie zum Beispiel die pauschale Einschätzung von Russen als besonders gewalttätig oder sogenannter "Südländer", die besonders impulsiv seien und denen Unberechenbarkeit unterstellt werde.
Diskriminierung durch Sprache
Bei einem Einsatz in einem sozialen Brennpunkt habe es geheißen, die Gegend kenne man schon, das sei eine besondere Klientel. Auch Wörter wie "Zigeuner" und "Sippe" seien gefallen. "Da wurde deutlich, dass die Gefahreneinschätzung verschärft wurde durch ethnisierende und rassifizierende Zusatzkategorien", bewertet Jacobsen dieses Verhalten.
Wichtig ist ihr der methodische Ansatz ihrer Untersuchung: Der Fokus habe nicht auf individuellen Einstellungen und Wertehaltungen von Polizistinnen und Polizisten gelegen. Dazu heißt es in der Studie: "Es ging also nicht um einzelne Beamt*innen, die sich unangemessen oder rassistisch verhalten oder aus Stress oder Angst fehlerhaft handeln - sondern darum, ob bestimmte Verfahren und Routinen im Polizeialltag so ausgestaltet sind, dass das Risiko für eine Benachteiligung von bestimmten Personengruppen steigt."
Wenn das äußere Erscheinungsbild entscheidet
Von der Gefahr eines Tunnelblicks ist in der Analyse die Rede: Die Auswahl von Personen für eine Beobachtung erfolge vor Ort zunächst anhand des äußeren Erscheinungsbildes. So gerieten vor allem jene in den Blick, die den polizeilichen Vorstellungen über das Aussehen von Tätern bestimmter Straftaten im öffentlichen Raum entsprächen. Personen mit anderem Erscheinungsbild hingegen blieben von vornherein unberücksichtigt.
In der Studie wird ein Polizist zitiert: "Man erkennt die Dealer am äußeren Erscheinungsbild. Das beruht auf Erfahrung. Ein Albaner und ein Osteuropäer sehen eben aus, wie sie aussehen." Das Problem aus Sicht des Studienteams: Weil Menschen aussehen, "wie sie aussehen", und nicht, weil sie sich verdächtig verhielten, gerieten sie systematisch in den Fokus der polizeilichen Beobachtung.
Das Problem der selektiven Wahrnehmung ist bekannt
Dass damit nur ein Ausschnitt des Gesamtbildes wahrgenommen wird, ist in Polizeikreisen offenbar bekannt, wie man in der Studie nachlesen kann: "Denn Drogenermittler*innen hingegen berichten selbst, dass mit dem Einsatz von Drogenspürhunden relevante Mengen an Drogen bei Personen sichergestellt wurden, die sie nie kontrolliert hätten, weil sie nicht ins Täterprofil passten."
Die Erkenntnisse der neuen Studie könnten Folgen haben, berichtet Astrid Jacobsen: Polizei und Innenministerium in Niedersachsen hätten signalisiert, gemeinsam mit ihrem Team andere Arbeitsabläufe erarbeiten zu wollen. Zudem seien die Ergebnisse aus Niedersachsen auf andere Bundesländer übertragbar. Ein Gegensteuern sei vor dem Hintergrund des mutmaßlich islamistischen Anschlags von Solingen mit drei Toten dringend notwendig, meint die Polizei-Expertin: "Menschen, die Diskriminierung erfahren, radikalisieren sich leichter."