"Die Linke ist nicht der Weltuntergang"
21. Oktober 2018Viele Regionen in den alten Bundesländern hat Bodo Ramelow, der thüringische Ministerpräsident kennengelernt, bevor er in jenes Bundesland kam, das er heute regiert. In Thüringen, sagt er im Interview der Woche der Deutschen Welle, habe er das Gefühl, "angekommen zu sein in meinem eigenen Leben". Dort hab er den Eindruck, "richtig Wurzeln schlagen zu können".
Politisch hat Ramelow (Die Linke) zu seiner neuen Heimat freilich ein nicht ganz einfaches Verhältnis. Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) hat auch in Thüringen Erfolg. 2014, bei den letzten Landtagswahlen, erreichte sie zwar nur acht Prozent der Stimmen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest-Dimap Ende August 2018 kam sie in Thüringen auf 23 Prozent. Damit wäre sie dort wie in Sachsen und Sachsen-Anhalt nach der CDU die zweitstärkste Kraft, gefolgt von der Linken.
Gewiss, Umfrageergebnisse sind keine Wahlergebnisse. Doch sie deuten Tendenzen an. Und die, so Ramelow, verwiesen auf ein Ost-West-Problem: "Die Menschen in Ostdeutschland fühlen sich schlecht behandelt, deklassiert." Erstaunlich sei das nicht: "Wenn aus Westdeutschland ständig Ratschläge in Richtung Osten gegeben werden - nach dem Motto: Wir werfen euch vor, ihr wart früher in der DDR viel zu angepasst, jetzt haltet doch den Mund und passt euch an -, dann funktioniert das nicht."
Westliche Überheblichkeit
Vor einiger Zeit hatte Ramelow zumindest einen Teil der Thüringer Bürger für ihre politischen Ansichten kritisiert: "Ich hab gesagt, dass da rassistische Teilelemente mit implementiert waren und Fremdenfeindlichkeit immer dann wachsen kann, wenn es keine anderen Menschen gibt, wenn es keine andere Kultur, keine andere Religion gibt."
Allerdings sei eine solche Haltung kein rein ostdeutsches oder thüringisches Phänomen, präzisiert er. "Ich kenne das noch aus meiner Geburtsstadt Osterholz-Scharmbeck in Niedersachsen in den 1960er-Jahren. Da waren die Italiener auf einmal mit der Eisdiele eine speisetechnische Bereicherung. Aber mit den Kindern der Italiener wollte niemand spielen. Das waren 'Spaghettifresser' oder 'Scheiß-Itaker', das habe ich noch gut in Erinnerung." Die Gewohnheit einiger Westdeutscher, auf den Osten zu zeigen und dessen Bewohnern Fremdenfeindlichkeit vorzuwerfen, sei darum vor allem eines: überheblich.
Angst vor dem, was man nicht kennt
In Thüringen leben weniger als fünf Prozent Menschen nicht-deutscher Herkunft. Zum Vergleich: Im westlichsten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, leben fast zwölf Prozent. Umso erstaunter könnte man über die im Osten teils verbreitete Fremdenfeindlichkeit sein. Ramelow sieht es allerdings anders: Dass Menschen Abneigung gegen Menschen empfänden, die sie gar nicht kennen, sei ein ganz natürlicher Prozess: "Was nicht vorhanden ist, lässt sich mit Angst füllen. Und wenn man ohnehin das Gefühl hat, dass etwa nicht richtig läuft, dass man möglicherweise nach einem Leben langer Arbeit in Altersarmut strandet, dann sind die Menschen teils auch empfänglich für Hass und Fremdenfeindlichkeit."
Die Gründe für den Erfolg, den Umfragen der AfD in Thüringen attestieren, sieht Ramelow in Entwicklungen, die weit über das Bundesland hinausreichen. "Dass drei Millionen Kinder in Familienverhältnissen groß werden, die aus der Armut nicht hinauskommen, das empfinde ich als Skandal. Dazu gehört auch, dass viele Menschen ihr Leben lang arbeiten gehen und dennoch in Altersarmut landen." Dies gelte vor allem dann, wenn die Bundespolitik das Thema nicht anspreche, sondern sich damit begnüge, den Sozialhilfesatz, im Volksmund "Hartz IV", um fünf Euro zu erhöhen.
Schicksalsentscheidung bei der Europawahl
Das die AfD absehbar in allen deutschen Landesparlamenten vertreten sein dürfte, ist für Ramelow "europäische Normalität". Abfinden dürfe man sich damit freilich nicht. "Vor der Europawahl wird es eine Schicksalsentscheidung sein, ob wir Europa denjenigen überlassen, die es zerstören. Wenn wir es nicht schaffen, in Europa eine gemeinsame Kraft zu entwickeln und uns stattdessen von Geert Wilders und Co. diktieren lassen, wie Europa sich entwickelt, dann wird es gefährlich für uns alle."
Thüringen etwa lebe von einer gesamteuropäischen Wirtschaftszone. "Wir exportieren mittlerweile überwiegend in diesen Raum, und wir haben sechzig Firmen, die mit zu den Weltmarktführern gehören. Wenn wir in einer solchen Situation zulassen, dass Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zu Alltagserscheinungen werden, dann wird es gefährlich für uns." Thüringen stehe vor einer riesigen Verrentungswelle. "Wenn wir Menschen nicht dazu bewegen, hierher zu kommen, hier mitzuarbeiten, sich hier mit einzubringen, wenn wir es nicht schaffen, den Standort Thüringen als einen attraktiven, europäischen Zentralstandort zu definieren, dann wird es für uns auch langfristig wirtschaftspolitisch schwierig."
Weiterhin Barrieren zwischen Ost und West
Barrieren will Ramelow auch im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen überwinden. In Teilen gebe es immer noch unterschiedliche Mentalitäten. "Ein Beispiel: Ich selber bin bekennender Christ und die Frage der Jugendweihe in Thüringen sollte ein Auslaufmodell sein."
Die Jugendweihe war ein in den kommunistischen Ländern Europas verbreitetes Initiationsritual, das als atheistisches Pendant zu Kommunion und Konformation diente. Darüber wurde sie zu einem Ritual, um junge Menschen im Sinne der marxistisch-leninistischer Weltanschauung der kommunistischen Regime zu erziehen. Nach der "Wende" 1989 verlor die Jugendweihe enorm an Popularität. Das habe sich mittlerweile wieder geändert, so Ramelow: "Das heißt, die Einbindung dieses Rituals, das immer der DDR zugeschrieben war, was in Wirklichkeit viel älter ist, aber tatsächlich ein unreligiöses Ritual ist, wird auf einmal von jungen Leuten sehr stark mit fast neunzig Prozent der Jahrgänge in Anspruch genommen. Das verwundert die westdeutschen Familienmitglieder, wenn sie zu Besuch kommen."
Jenseits aller Grenzen zwischen den Bundesländern plädiert Ramelow für überparteiliche Zusammenarbeit jenseits überhöhter ideologischer Distanzen. "Das halte ich für demokratische Kultur und ich würde mir wünschen, wenn manch andere - auch in Bayern zum Beispiel - begreifen würden, dass die Linke nicht der Weltuntergang ist und dass nicht der Weltkommunismus ausbricht, sondern dass wir auch mit ein paar anderen Ideen um die Ecke kommen, die ganz gut sind für einen gesellschaftlichen Dialog."
Das Interview führte Thomas Spahn.