Zweifel am Atomausstieg
10. Januar 2007Angesichts des russischen Öllieferstopps sei es "dringend notwendig", über eine Revision des Ausstiegs aus der Atomenergie nachzudenken, sagte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) am Dienstag (9.1.2007). Doch Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) will davon nichts wissen. Außerdem sei Deutschland mit dem Atomausstieg in Europa nicht isoliert; 17 von 27 EU-Ländern hätten ähnliche Pläne oder nutzten Atomkraft ohnehin nicht, sagte der Minister.
Ende 2006 war es der Klimaschutz, der den Anti-Atomaussteigern Auftrieb gab. Im Streit über den Handel mit Emissionszertifikaten und den strengen Forderungen der EU-Kommission an die Mitgliedsländer schien der Druck auf die SPD zu steigen, längeren Atomlaufzeiten zuzustimmen. Bundeskanzlerin Merkel machte am Mittwoch nochal deutlich, dass sie am im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Atomausstieg nicht rütteln werde. "Ich bin vertragstreu an dieser Stelle." Im Interesse auch der künftigen Energieversorgung dürfe es jedoch keine "Denkverbote" über negative Folgen des von der SPD verlangten Atomausstiegs geben.
Atomstrom gegen Abhängigkeit von russischem Gas
Ob Russlands unzuverlässige Öllieferungen tatsächlich die Notwendigkeit einer verstärkten Atomdiskussion untermauern - die Glos fordert - ist fraglich. "Man versucht aus Gründen der Lobbypolitik das Thema Atomkraft und die Öl-Diskussion miteinander zu verbinden", bemerkt Enno Harks, Energie-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Doch "Autos fahren noch nicht mit Kernkraft", sagt er. Andererseits wird der in Deutschland produzierte Strom nicht aus Öl gewonnen. Rund 30 Prozent kommen aus Kernkraftwerken, der Anteil erneuerbarer Energien liegt bei rund neun Prozent, der Rest kommt aus fossilen Brennstoffen, zumeist Kohle. Allerdings werden auch aus Gas etwa zehn Prozent des deutschen Stroms gewonnen.
Hier könnten sich die Anforderungen des Klimaschutzes und Präsident Putins nervöser Finger an den Energiehähnen für Deutschland zu einem Problem auswachsen. Bis 2020 soll der Ausstoß von Kohlendioxid (CO2) in der EU um mindestens 20 Prozent gesenkt werden, wie die EU-Kommission am Mittwoch verkündete.
Um diese Emissionsziele zu erreichen, müsse Deutschland den Anteil der Stromgewinnung aus CO2-Schleudern, wie den Kohlekraftwerken, entschieden verringern, meint Harks. Erneuerbare Energien, deren Anteil stetig aber langsam zunimmt, werden diesen Ausfall in absehbarer Zeit bei weitem nicht auffangen können. Es blieben dann nur wenige Alternativen. Deutschland muss mehr Strom aus Gas produzieren und sich damit zunehmend von russischem Gas abhängig machen - oder die Atomkraftwerke länger am Netz lassen.
EU-Agenda zur Kernenergie
Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin favorisiert eine längere Laufzeit für Atomkraftwerke. "Sie könnten 10 bis 15 Jahre länger laufen." Doch dies sollte an strikte Auflagen für die Energieversorger geknüpft werden. "Die Kraftwerksbetreiber müssen konkrete Pläne für Investitionen vorlegen", fordert Kemfert. Das hieße in erster Linie Gelder für die Erforschung und Entwicklung regenerativer Energien. Auch über eine Atomstrom-Agenda auf EU-Ebene müsse nachgedacht werden, um die Nutzung der Kernenergie in den einzelnen Ländern besser zu koordinieren.
Alle EU-Länder auf eine Atomstromquote festzulegen, sei aber illusorisch, sagt Harks. "Die Franzosen beziehen 95 Prozent ihres Stroms aus Atomenergie, die Deutschen wollen aussteigen. Beide auf eine Quote von beispielsweise 40 Prozent festzulegen ist undenkbar." Tatsächlich gibt es aber bereits eine EU-weite Grundlage für die Nutzung der Kernenergie. Der von allen EU-Ländern unterschriebene Euratom-Vertrag aus den 1950er-Jahren beinhaltet die Förderung und Subventionierung der Kernenergie. Eine weitergehende, EU-weite Koordination sei aber schwierig. Und für einen EU-Plan zum völligen Atomausstieg á la Deutschland "ist die Konsensfähigkeit gleich Null", berichtet Harks.
Langfristig gebe es allerdings keine Alternative: "Die weltweiten Uranvorräte sind begrenzt." Zudem befördere das Festhalten an der Kernenergie das Problem der Proliferation - der Weitergabe von Atomtechnik, meint Harks. "Wie problematisch das sein kann, zeigt bereits jetzt der Fall Iran."