Putin formuliert Ukraine-Doktrin - und droht
15. Juli 2021Ungefähr zur gleichen Zeit, als sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in Berlin am Montag auf den Weg zum Abendessen mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel machte, erschien auf der Webseite des Kremls ein Artikel Wladimir Putins. Der Kremlchef präsentierte darin seine Gedanken "über eine historische Einheit von Russen und Ukrainern". Er habe seine jüngsten Bemerkungen über "ein Volk" während der Bürgersprechstunde Ende Juni ausführlicher darlegen wollen, so Putin.
Das Ergebnis waren 19 Seiten, die den Zeitraum vom Mittelalter bis in die Gegenwart umfassen. Einen Tag später legte der Kreml nach und publizierte Putins Antworten auf Fragen zu seinem Text auf acht weiteren Seiten. Woher die Fragen kamen und wer sie stellte, blieb unklar.
Putins Kernbotschaften an Kiew
In der jüngsten Vergangenheit hatte Russlands Präsident immer öfter Artikel über historische Themen geschrieben, etwa über den Zweiten Weltkrieg, die in heimischen oder westlichen Printmedien publiziert wurden. Diesmal wählte Putin einen anderen Weg. Sein Text erschien nur auf der Webseite des Kremls, allerdings, und das ist neu, in zwei Sprachen: Russisch und Ukrainisch. Er liest sich wie ein Grundsatzartikel, eine Art Ukraine-Doktrin. Sie verheißt wenig Gutes für das betroffene Land.
Wirklich viel Neues gibt es im Artikel nicht. Putin fasst zum ersten Mal detailliert seine früheren Äußerungen zu Ukraine zusammen. Eine der Kernbotschaften: die drei ostslawischen Bevölkerungsgruppen - Russen, Ukrainer, aber auch Belarussen - seien "ein Volk", Erben der mittelalterlichen Kiewer Rus. Dieses Volk sei nach dem Zerfall der Sowjetunion vor 30 Jahren getrennt worden. Die heutige Ukraine ist in Putins Augen größtenteils auf Kosten russischen Territoriums im 20. Jahrhundert entstanden. Schuld daran seien die Bolschewiken, die die Ukraine geschaffen hätten, als 1922 die UdSSR gegründet wurde: "Russland wurde faktisch beraubt."
Heute werde die Ukraine vom Westen gesteuert, um Russland zu schwächen. Moskau werde das nicht tolerieren. "Wir werden niemals zulassen, dass unsere historischen Territorien und dort lebende uns nahe stehende Menschen gegen Russland benutzt werden", droht Putin. An einer anderen Stelle wettert Russlands Präsident gegen das, was er eine "Zwangsassimilierung" ethnischer Russen in der Ukraine nennt. Er setzt diese mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gleich: "Als Folge einer solchen groben, künstlichen Trennung zwischen Russen und Ukrainern kann das russische Volk insgesamt um hunderttausende, gar Millionen schrumpfen." Einen solchen Vergleich macht Putin zum ersten Mal.
Historiker: Putins Drohungen sind gefährlich
Der Wiener Historiker Andreas Kappeler gilt als einer der besten Kenner der ukrainischen Geschichte und der komplexen Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen, die er in seinem Buch "Ungleiche Brüder" beschrieb. Die Äußerungen Putins seien zwar nicht neu, doch der Kremlchef habe sich radikalisiert. "In diesem Artikel droht er mehrfach mit einem Eingreifen Russlands in der Ukraine, was er dann historisch und anderweitig legitimieren will", sagt Kappeler im DW-Gespräch. "Der imperiale Nationalismus, den er schon immer hatte, ist nun stark mit ethnischen Elementen angereichert worden. Das ist besonders gefährlich." Damit sei der Anspruch Russlands auf den Schutz aller russischsprachiger Minderheiten in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken verbunden.
Einige Passagen in Putins Text ließen sich wie eine Kriegsdrohung interpretieren, so Kappeler. Die Kernaussagen richten sich nicht nur an die Ukraine, sondern an alle ehemaligen UdSSR-Republiken - und an den Westen. In den zusätzlichen Ausführungen zu seinem Text deutet Putin an, Russland werde nur eine freundlich gesinnte Ukraine in ihren heutigen Grenzen akzeptieren. Was passieren könnte, wenn die aktuelle Lage bleibt, lässt er offen. Der Historiker Kappeler moniert die Tatsache, dass Putin in seinem Artikel den zentralen Hintergrund für die Spannungen nicht erwähnt, nämlich die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine, bei dem Russland die Separatisten unterstützt. Moskau bestreitet das.
Darum droht der Kremlchef der Ukraine jetzt
Doch warum richtet Putin ausgerechnet jetzt seine Botschaft an die Ukraine? Der Kremlchef selbst erklärt es so: Es gebe Anzeichen, dass die Ukraine vom Westen als "Antipode zu Russland" aufgebaut werde - auch militärisch. Zudem ist er erzürnt über das Vorgehen Kiews gegen den oppositionellen ukrainischen Politiker Viktor Medwedtschuk, mit dem er ein enges, auch persönliches Verhältnis pflegt. Ukrainische Ermittler werfen Medwedtschuk unter anderem Staatsverrat vor, er befindet sich unter Hausarrest in Kiew.
Putin sei "persönlich wütend" auf Selenskyj wegen des Umgangs mit Medwedtschuk, meint der russische Journalist und DW-Kolumnist Konstantin Eggert. In der Tat weigert sich der Kremlchef seit Monaten, sich mit dem ukrainischen Amtskollegen zu treffen, weder bilateral, noch im Rahmen des von Deutschland und Frankreich flankierten Normandie-Formats. Putins Artikel erschien während des Besuchs von Selenskyj in Berlin und vor dessen Reise Ende Juli nach Washington.
Der ukrainische Präsident reagierte bisher betont gelassen auf Putins Artikel. Der Kremlchef habe keine Zeit für ein Treffen, jetzt wisse er, womit sich Putin beschäftigt habe, so Selenskyj. Man werde über eine Antwort nachdenken.