Putin, der Wissenschafts-Flüsterer?
23. Juni 2020Es ist Montag, der 22. Juni, Jahrestag des Überfalls Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion, als Julia Obertreis eine E-Mail von der russischen Botschaft in Berlin erhält. Betreff: "Artikel von Wladimir Putin". In einem kurzen Schreiben an die Osteuropa-Historikerin und Professorin der Universität Erlangen-Nürnberg schickt die Pressestelle einen Grundsatzartikel des russischen Präsidenten zum Zweiten Weltkrieg, der zuvor auch auf Englisch und Russisch erschienen war. Anlass ist der 75. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, der in Russland am 9. Mai gefeiert wurde. Die dazugehörige große Siegesparade in Moskau wurde in diesem Jahr wegen der Corona-Epidemie auf den 24. Juni verlegt.
In seinem Artikel beschäftigt sich Putin mit Hintergründen des Kriegs, greift das Münchner Abkommen und die damalige Politik der Westmächte scharf an und rechtfertigt den Hitler-Stalin-Pakt, was in Polen und den baltischen Staaten kritisiert wird. Am Ende der E-Mail steht etwas, das Obertreis noch mehr irritiert. Mit Hinblick auf das "erhebliche Interesse" beim Fachpublikum - von dem die Botschaft ausgeht - schlägt die Pressestelle vor, "den Artikel von Wladimir Putin künftig bei der Vorbereitung von historischen Beiträgen zu nutzen". Auch andere Historikerinnen und Historiker erhalten diese Mail, der DW liegt das Schreiben vor.
Historikerin kritisiert Botschaft Russlands
Obertreis empört sich über diese Empfehlung auf Twitter und postet ein Bild der E-Mail. "Zunächst möchte ich mich als Osteuropa-Historikerin und als Wissenschaftlerin dagegen verwehren, dass ich von einer diplomatischen Vertretung ungefragt eine Lektüreempfehlung bekomme", so Obertreis im Gespräch mit der DW. Die gemeinschaftliche Erforschung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, zu der Putin in seinem Artikel aufgerufen habe, würde "am besten gelingen, wenn Politik und Diplomatie dabei so wenig wie möglich inhaltlich Einfluss nehmen", führt Obertreis weiter aus. "Dass Regierende Geschichtspolitik betreiben, ist in gewisser Hinsicht unvermeidbar. Aber die versuchte Beeinflussung, wie jetzt durch die russische Botschaft geschehen, ist im Sinne der Wissenschaftsfreiheit nicht zu akzeptieren."
Ähnlich argumentieren auch andere Osteuropa-Historikerinnen. Eine von ihnen ist Anke Hilbrenner, Professorin an der Universität Göttingen: "Ich war überrascht über diese Mail und habe zunächst gedacht, das kann nicht ernst gemeint sein", sagte die Historikerin der DW. Putins Artikel hätte auch ohne dies Beachtung in Fachkreisen gefunden, glaubt Hilbrenner. Der Auftritt des Präsidenten als Historiker sei dagegen "überaus ungewöhnlich". Problematisch sei vor allem die "Vermischung von Politik und Wissenschaft". Besonders irritierend sei die Empfehlung der Botschaft, den Text zu nutzen. "Das ist eine Einmischung in die Freiheit der Wissenschaft", meint Hilbrenner.
Martin Aust von der Universität Bonn, auch er Professor mit dem Schwerpunkt Osteuropa, stimmt dem zu. "Ich finde es sehr befremdlich und irritierend, dass eine Botschaft einen Text ihres Präsidenten an einen ausländischen wissenschaftlichen Adressatenkreis verschickt und dies mit dem Hinweis versieht, der Text werde künftig bei Schreiben von Texten zur Geschichte hilfreich sein", so Aust. "Zur Wissenschaftsfreiheit gehört auch, dass die Wissenschaft keine Lektüreempfehlungen von Staatsoberhäuptern und Diplomaten erhält, die im Verdacht stehen, Einfluss nehmen zu wollen."
So begründet die Botschaft den Verweis auf Putin-Artikel
Die russische Botschaft in Berlin teilte auf DW-Anfrage mit, Putins Artikel habe schon in den Tagen zuvor "eine breite Resonanz im deutschen medialen und gesellschaftlich-politischen Raum ausgelöst". "In diesem Zusammenhang hielt es die Botschaft für angebracht, die deutsche Öffentlichkeit und die Fachleute, die dieses Thema interessieren könnte, mit einer kompletten Fassung des Artikels vertraut zu machen."
Bei der inhaltlichen Bewertung von Putins Artikel zum Zweiten Weltkrieg ist man sich weitestgehend einig. Julia Obertreis betont: "Dass, wie Putin schreibt, die polnische Führung allein am weiteren Schicksal Polens schuld gewesen sei, ist völlig unhaltbar und entschieden zurückzuweisen." Auch Aust und Hilbrenner teilen diese Einschätzung.
Am Ende dürfte Putins Artikel tatsächlich Beachtung in der deutschen Öffentlichkeit finden, allerdings anders als von der Botschaft geplant. Wie, macht Anke Hilbrenner klar: "Ich nutze es als eine Quelle für Putins politische Indienstnahme von Geschichte und als Quelle für den ebenso ungeschickten wie schamlosen Versuch, uns Historikerinnen und Historiker für seine Zwecke einzuspannen."