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Politik

Hitler-Stalin-Pakt: Putins Geschichtsklitterung

Aureliusz Marek Pedziwol
20. Juni 2020

Russlands Präsident hat in einem Aufsatz zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges die Verantwortung der UdSSR für den Kriegsausbruch relativiert. Historiker und Russland-Experten erkennen darin uralte Lügen.

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9. Mai 2020: Wladimir Putin am Gedenktag des Sieges über Hitler-DeutschlandBild: Reuters/A. Druzhinin

In einem langen Aufsatz skizziert der russische Staatschef Wladimir Putin seine Version der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. "Der Krieg wurde nicht nur von Hitler provoziert, sondern auch durch die Politik der Nachgiebigkeit der westlichen Mächte, durch die Umzingelung der Sowjetunion und den Verrat der Tschechoslowakei", fasst Sławomir Dębski, langjähriger Leiter des staatlichen Zentrums für Polnisch-Russischen Dialog und Verständigung (CPRDiP), Putins Narrativ zusammen.

Was Dębski auffällt, ist die Relativierung des Hitler-Stalin-Paktes. Es gilt als sicher, dass dieser deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, der von den damaligen Außenministern Deutschlands und Russlands, Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, am 24. August 1939 in Moskau unterzeichnet wurde, Hitler den Weg zum Überfall auf Polen und zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eröffnet hatte. Dieser Vertrag hat nach Putins Lesart jedoch keine größere Bedeutung als andere Verträge dieser Art, die etwa auch Polen 1934 mit Deutschland abgeschlossen habe.

Was aber von der sowjetischen und jetzt von der russischen Seite gerne verschwiegen wird: Der Hitler-Stalin Pakt enthielt ein Geheimprotokoll, in dem die Aufteilung Polens und Osteuropas, sowie der neue Grenzverlauf zwischen Deutschland und der Sowjetunion festgelegt wurde.

Für Sławomir Dębski enthält Putins Artikel "nichts, was wir von der sowjetischen Propaganda nicht schon in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts gehört hätten". Es gehe darum zu beweisen, dass die Sowjetunion selbstverständlich eine Friedenspolitik führte, kein Land überfiel und besetzte, sagt Dębski, der zurzeit das Polnische Institut für Internationale Angelegenheiten (PISM) leitet. 

Balten entschieden "freiwillig"

Wacław Radziwinowicz war seit 1997 Russland-Korrespondent der polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza", bis Moskau ihn 2015 auswies. Anders als der PISM-Direktor findet der Journalist in Putins Text doch etwas Neues. "Man darf Moskau demnach nicht beschuldigen, dank des Ribbentrop-Molotow-Pakts die baltischen Staaten annektiert zu haben. Die Balten hätten nämlich 'freiwillig', anhand der Entscheidungen ihrer 'demokratisch gewählten Regierungen', ihre Republiken der UdSSR angeschlossen. Diese Lüge verbreitete der russische Präsident früher nicht und es ist wahrscheinlich die einzige Neuigkeit in seiner Schreibarbeit", stellt der polnische Russland-Kenner fest.

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Joachim von Ribbentrop (links neben Josef Stalin) und Wjatscheslaw Molotow (vorn) unterzeichnen in Moskau den deutsch-sowjetischen NichtangriffspaktBild: picture alliance/dpa

"Eine Historiker-Kommission aus Litauen und Russland hat Anfang der 2000er Jahre Archivdokumente zu der Vorbereitung und Durchführung der Annexion des Baltikums veröffentlicht", sagt die Historikerin Ekaterina Makhotkina von der Uni Bonn im DW-Gespräch. "Die Kollegen haben klar gezeigt, dass das geheime Protokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt völkerrechtswidrig war. Sowohl die Sowjetunion als auch Deutschland haben bei der Bestimmung von Schicksalen der kleinen Länder auf Gewalt gesetzt und fremde Territorien aufgeteilt. Dass Stalin dabei glaubte, dadurch die Sicherheit seines Landes verbessert zu haben, mag das Vorgehen des Kreml gegen Polen erklären aber keinesfalls rechtfertigen."

"Es hat etwas mit Gegenwart zu tun"

Putins Artikel sollte ursprünglich zum 75. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland am 9. Mai erscheinen. Die Feierlichkeiten wurden wegen der Corona-Pandemie auf den 24. Juni verschoben.

Aber warum hat Putin seinen Artikel geschrieben? Der deutsche Historiker Karl Schlögel, Autor des Buches "Das sowjetische Jahrhundert", ist überzeugt, dass das mit der Geschichte nichts zu tun habe. "Es hat etwas mit der Gegenwart zu tun. Er instrumentalisiert die Geschichtsinterpretation für seine gegenwärtige Politik. Es ist der Versuch, Polen und die Ukraine und die baltischen Staaten als reaktionär, nationalistisch und zum großen Teil auch antisemitisch hinzustellen. Es ist der Versuch einer Isolierung dieser Länder", sagt er in einem Gespräch mit der DW.

In Polen wird vermutet, dass dies auch mit dem Streben Polens zu tun hat, möglichst viele US-Soldaten an der Weichsel zu stationieren. Am 24. Juni soll Polens Präsident Andrzej Duda US-Präsident Donald Trump in Washington besuchen. Es wird erwartet, dass das jetzige US-Kontingent in Polen aufgestockt wird - zum Teil mit Soldaten, die aus Deutschland abgezogen werden sollen.

Wacław Radziwinowicz sieht im Putins Artikel eher eine Antwort auf die Resolution des Europäischen Parlamentes zu Ursachen des Zweiten Weltkrieges vom September 2019. Die EU-Parlamentarier nannten darin Hitler-Stalin Pakt als den unmittelbaren Grund des Ausbruchs des 2. Weltkrieges. Was aber für Radziwinowicz besonders beunruhigend klingt: Putin schlägt in seinem Aufsatz ein neues Format der Zusammenarbeit der Atommächte vor. "Aus der Geschichte zieht Putin den Schluss, es sei Zeit für neues Jalta, einen Großmächte-Zusammenschluss, der eine neue Weltordnung schaffen soll."