Waffenruhe auf gut Glück
Schwer verwundet kriecht der ukrainische Marineinfanterist Jaroslaw Schurawel durch das Niemandsland in Richtung ukrainischer Stellungen. Er trägt einen weißen Helm. Nur wenige hundert Meter trennen ihn von seinen Kameraden auf der einen und den pro-russischen Separatisten auf der anderen Seite. Das ergeben Drohnenbilder der ukrainischen Armee vom 13. Juli. Schurawel hatte versucht, die Leiche eines Kameraden zu bergen - ein Versuch, der mit dem Gegner abgesprochen worden war, so zumindest die Behauptung der ukrainischen Seite. Dennoch war Schurawel unter Beschuss gekommen. Bei dem Versuch, den sterbenden Schurawel zu retten, kommt noch am selben Tag der Sanitäter Mykola Iljin ums Leben. Jeder Hinweis auf die Genfer Konventionen kommt hier zu spät.
Nun sollen Jaroslaw Schurawels Kameraden, wie alle anderen Kriegsteilnehmer auch, entlang der 400 Kilometer langen Frontlinie aufhören zu schießen - dort, wo sich ukrainische Regierungstruppen und ostukrainische, von Russland unterstützte Milizen gegenüberstehen. Dieselben Kommandeure, die nicht in der Lage waren, die Bergung eines einzigen Soldaten verlässlich zu vereinbaren, sollen jetzt sicherstellen, dass ihre Truppen nicht zur Waffe greifen. Auch wenn sie provoziert werden. Auch wenn sie an vielen Stellen ihrem Gegner so nahe stehen, dass sie sich mit dem Fernglas beim Mittagessen beobachten können.
Jede Waffenruhe wurde gebrochen - warum sollte diese halten?
Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von einem Durchbruch, der den Minsker Friedensprozess beleben und so ein Ende des Konflikts herbeiführen könne. Doch warum ausgerechnet diese Waffenruhe halten soll, wo alle vorherige Anläufe gescheitert sind, erklärt Selenskyj nicht. Ende vergangenen Jahres vereinbarten Russland, Deutschland, Frankreich und die Ukraine beim Normandie-Gipfel in Paris auch eine umfassende Waffenruhe. Vor Ort im Donbass hat das keiner mitbekommen.
Was es nicht alles in den vergangenen Jahren schon gegeben hat: ein sogenannten "Brotfrieden" zur Erntezeit, ein "Schulfrieden" nach den Sommerferien und viele bescheidene Ansätze, zumindest auf lokaler Ebene für Ruhe zu sorgen. Mal hielten sie Tage, mal sogar mehrere Wochen.
Diesmal verstrichen keine zwanzig Minuten nach Inkrafttreten der Waffenruhe in der Nacht zu Montag, da vermeldete das ukrainische Militär schon Beschuss durch eine Panzerfaust bei Mariupol.
Ob das stimmt, lässt sich kaum nachvollziehen. Über die Einhaltung der Waffenruhe wachen nur wenige hundert Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und das ausschließlich tagsüber. Zu normalen Zeiten ist das schon schwierig genug bei hunderten Kilometern Frontverlauf. Die Corona-Pandemie bietet den Separatisten nun den perfekten Vorwand, die Bewegungsfreiheit der Beobachter weiter einzuschränken.
Doch ohne eine lückenlose Aufklärung solcher Vorfälle wie der um den Marineinfanteristen Jaroslaw Schurawel wird sich auch nichts ändern an dem Patt der vergangenen Jahre. Bisher konnten sich die Konfliktparteien gegenseitig die Schuld zuweisen, ohne dass die Außenwelt jemals erfuhr, wer zuerst geschossen hatte. Gelegentlich hatte man den Eindruck, auch die Befehlshaber in Kiew und Moskau wüssten es nicht mehr so genau.
Es gibt einen Patt - keinen Mittelweg
In Kiew und im Ausland wird gerne behauptet, Verhandlungen über eine politische Lösung seien nicht möglich, solange täglich geschossen werde. Doch auch nach sechs Jahren gibt es im Grunde genommen nur zwei Möglichkeiten: Frieden zu den Bedingungen Kiews oder Moskaus. Ein Mittelweg zeichnet sich nicht ab. So lange sich beide Seiten zu stark fühlen, um die Bedingungen des Gegners zu akzeptieren, und gleichzeitig zu schwach, um das eigene Szenario mit Gewalt durchzusetzen, bleibt alles beim Alten. Der Status Quo ist für beide Seiten das kleinere Übel.
Nur traut sich keiner, das offen auszusprechen, schon gar nicht der Wahlkämpfer Selenskyj, der vor einem Jahr mit dem Versprechen eines schnellen Friedens fast drei Viertel der ukrainischen Wähler von sich überzeugen konnte. Im Herbst stehen Lokalwahlen an und die Umfragen sehen besonders in dem vom Krieg gezeichneten Osten für Selenskyj nicht gut aus. Auch wenn realistischerweise kein Ende des Konflikts zu erwarten ist - ein erneuter Versuch dazu ist im Wahlkampf unerlässlich, so hoffnungslos er in Wahrheit auch sein mag.
Zu Beginn von Selenskyjs Amtszeit hieß es aus seinem Umfeld, ein Jahr lang werde man versuchen, den Konflikt diplomatisch zu lösen. Danach werde man sich Alternativen überlegen - sprich: den Konflikt einfrieren. Das Jahr ist nun um. Nach den Wahlen ist der Präsident vielleicht soweit, seinen vielzitierten "Plan B" auf den Tisch zu legen. Noch weiß niemand, wie der aussieht.