Brüchiger Waffenstillstand in der Ostukraine
28. Juli 2020Am 27. Juli sollte an der Kontaktlinie im Donbass eine "vollständige und umfassende" Waffenruhe beginnen. Zuvor hatten in einem Telefonat die Präsidenten der Ukraine und Russlands, Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin, die entsprechende Vereinbarung der Trilateralen Kontaktgruppe aus Unterhändlern der Ukraine, Russlands und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) begrüßt. Selenskyjs Büro teilte zudem mit, die Waffenruhe sei Voraussetzung für die Umsetzung des 2015 ausgehandelten Minsker Friedensabkommens.
Doch nur wenige Stunden nach Beginn der Waffenruhe erklärte die ukrainische Seite, die prorussischen Separatisten hätten sie bereits mit erneutem Beschuss verletzt. Daraufhin hieß es von der selbsternannten "Volksrepublik Donezk", die Erklärung des ukrainischen Militärs sei eine "Provokation".
Seit Beginn des Krieges im Jahr 2014 gab es schon über 20 Waffenruhen. Doch keine hielt. Daher gab es auch diesmal, schon am Abend des 27. Juli, wieder eine Demo in Kiew - auf Initiative der Partei "Europäische Solidarität" des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko. Die Organisatoren sehen in der Waffenruhe einen Schritt in Richtung "Kapitulation". Medien zufolge nahmen an der Aktion mehrere hundert Menschen teil.
Minsker Abkommen in Gefahr?
Trotz friedliebender Rhetorik äußert Kiew in letzter Zeit zunehmend Zweifel an den Minsker Vereinbarungen. So sagte der ukrainische Vizepremier Oleksij Resnikow, der der Kontaktgruppe angehört, die Vereinbarungen würden nicht mehr die Realität im Osten der Ukraine widerspiegeln. In seinem Blog auf der Website des Atlantic Council heißt es: "Die 2015 definierte Frontlinie ist überholt, da heute weitere 1800 Quadratmeilen ukrainischen Landes russisch besetzt sind. Solche Anomalien berauben den ganzen Minsker Prozess seiner Logik."
Zudem setzte Mitte Juli das ukrainische Parlament für Oktober dieses Jahres landesweit Kommunalwahlen an. Sie werden aber nicht in den nicht von Kiew kontrollierten Teilen der Regionen Donezk und Luhansk stattfinden und auch nicht auf der von Russland annektierten Krim. Dort könnten den Parlamentariern zufolge Kommunalwahlen erst nach "Ende der vorübergehenden Okkupation und der bewaffneten Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine" abgehalten werden.
Für Resnikows Worte, aber auch für den Parlamentsbeschluss gab es Kritik aus Moskau. Während jenes Telefonats zwischen Selenskyj und Putin sagte der Kremlchef, Äußerungen hochrangiger ukrainischer Vertreter würden "ernsthafte Besorgnis" hervorrufen. Auch würden die Kommunalwahlen den Minsker Vereinbarungen zuwiderlaufen, was eine Regelung des Konflikts gefährde.
Status quo im Donbass bequem?
Jewhen Magda vom Kiewer "Institut für Weltpolitik", meint, die ukrainische Seite wolle auf keinen Fall die Minsker Vereinbarungen kündigen und vor der Welt als die Seite dastehen, die keine diplomatische Lösung für den Konflikt suche. Der Parlamentsbeschluss mache aber klar, dass es bis Herbst unmöglich sein werde, die notwendigen organisatorischen Voraussetzungen und Sicherheitsbedingungen für Wahlen in den von Kiew nicht kontrollierten Teilen der Regionen Donezk und Luhansk zu erfüllen.
Mykola Kapitonenko, Experte am ukrainischen "Internationalen Zentrum für politische Studien" (ICPS), fügt hinzu, auch von russischer Seite sei keine Kündigung der Minsker Vereinbarungen zu erwarten. "Für Moskau ist die konsequente Umsetzung der Vereinbarungen nach russischer Lesart das bequemste und sicherste Szenario zur Lösung des Konflikts im Donbass", so der Experte. Der Kreml wiege sich in einer günstigeren Position und wolle daher weiter in der Erwartung verhandeln, Kiew könnte eines Tages doch noch große Zugeständnisse machen.
Cristina Gherasimov von der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) stellt außerdem fest, die geplanten Kommunalwahlen würden bedeuten, dass die Konfliktparteien keine Einigung über die politischen Bedingungen zur Durchführung von Wahlen und die Gewährleistung von Sicherheit erzielt hätten. Sie weist darauf hin, dass die jüngsten Kiewer Beschlüsse in Moskau keine besonders scharfe Reaktion hervorgerufen hätten. Ihrer Meinung nach könnte Russland aber die Beschlüsse bei Gelegenheit ausnutzen, um Kiew vorzuwerfen, nicht im Geiste der Minsker Vereinbarungen kooperieren zu wollen.
Präsident Selenskyj unter Druck
Gherasimov glaubt nicht, dass Kiews Beschluss, Kommunalwahlen abzuhalten, eine Eskalation der Konfrontation im Donbass hervorrufen wird. Er könnte aber später im Zusammenspiel mit gewissen Ereignissen als Anlass für eine Zuspitzung der Lage dienen.
Was die Waffenruhe angeht, ist Mykola Kapitonenko nicht optimistisch. Er ist überzeugt, die Aufrechterhaltung des Konflikts mit geringer Intensität biete jeder Partei gewisse Vorteile. "Selenskyj könnte Zugeständnisse machen, einen bestimmten Preis zahlen, um den Konflikt einzufrieren, um dies dann als Frieden zu bezeichnen. Bei einer Wiedereingliederung jener Gebiete könnte er einen noch höheren Preis zahlen. Aber schon jetzt ist klar, dass der ukrainische Präsident die Situation etwas anders sieht als zu Beginn seiner Amtszeit, als in der Welt noch vieles erreichbarer schien", so der Experte.
Präsident Selenskyj könnte sich, so Kapitonenko, aufgrund des Widerstands eines Teils der ukrainischen Gesellschaft, die ihm aufzeigt, welche Linien er bei seinen Friedensinitiativen nicht überschreiten darf, in einer Lage wiederfinden, in der sich sein Amtsvorgänger Petro Poroschenko befand. Er war ebenfalls mit dem Versprechen angetreten, Frieden herzustellen. Doch die Umstände hätten ihn dazu gezwungen, zu einer eher kriegerischen Rhetorik überzugehen.