Premier Johnson steht vor der Entmachtung
7. Juli 2022Bisher war es Boris Johnson stets gelungen, sich aus allen schwierigen bis unmöglichen Situationen herauszuwinden. Diesmal rechnet kaum noch jemand damit, denn der Druck aus den eigenen Reihen ist einfach zu groß.
Die "offenbar koordinierten" Rücktritte von zwei seiner wichtigsten Kabinettsmitgliedern waren ein "Todesstoß", wie die Zeitung "The Times" schrieb. Sie bezog sich damit auf die Personalien Sajid Javid (Gesundheit) und Finanzen (Rishi Sunak).
Inzwischen wird die Liste derjenigen, die sich distanzieren, von Stunde zu Stunde länger. Zurückgetreten sind mittlerweile auch Sunaks Nachfolger Nadhim Zahawi, Damian Hinds (Sicherheit), Michelle Donelan (Bildung) und Brandon Lewis (zuständig für Nordirland).
Die Regierung habe den Punkt überschritten, an dem eine Umkehr noch möglich sei, schrieb Lewis in einem auf Twitter veröffentlichten Brief. "Ich kann nicht meine persönliche Integrität opfern, um die Dinge zu verteidigen, wie sie jetzt sind", betonte der scheidende Minister. Das Land und die konservative Partei "verdienen etwas Besseres".
Mehr als 40 Regierungsmitglieder und Parteifreunde sind dem konservativen Premierminister inzwischen in den Rücken gefallen - und sie ließen es nicht an scharfer Kritik an seinem Führungsstil fehlen. Gleich von mehreren Tory-Kollegen musste sich der Regierungschef im Parlament fragen lassen, wann er sich denn nun endlich zurückziehen werde. Johnsons Antwort klang wie immer: "Ich trete nicht zurück!"
Eisige Stimmung im Regierungslager
Die Stimmung auf den Bänken der Konservativen im Unterhaus - normalerweise wird der Premier dort mit lautstarken Yeah-Yeah-Yeah-Rufen angefeuert - war eisig. Teilweise herrschte Grabesstille. Der zurückgetretene Gesundheitsminister Sajid Javid rief weitere Kabinettsmitglieder auf, seinem Beispiel zu folgen. Noch während Johnson sich den Fragen der Abgeordneten stellte, wurden weitere Rücktritte konservativer Amtsträger bekannt.
"Bye, Boris!", johlten die Oppositionsbänke, als der 58-Jährige das Unterhaus verließ. "Ist dies der erste bestätigte Fall, in dem das sinkende Schiff eine Ratte verlässt?", höhnte Oppositionsführer Keir Starmer.
Das 1922-Komitee kneift
Wenige Stunden nach der Parlamentsbefragung setzte sich das einflussreiche 1922-Komitee zusammen, in dessen Kompetenz es liegt, die Regeln für ein Misstrauensvotum gegen den Tory-Parteichef festzulegen. Johnson hatte erst vor einem Monat eine Misstrauensabstimmung in seiner Fraktion knapp überstanden. Nach den bisherigen Regeln der Tory-Partei durfte für die Dauer von zwölf Monaten nach der Abstimmung kein neuer Versuch unternommen werden.
Obwohl die Forderungen nach einer Änderung dieser Regel unüberhörbar wurden, hat sich das Gremium zunächst anders entschieden. Man will am kommenden Montag zunächst eine neue Komiteespitze wählen. Weil dann aber vermutlich parteiinterne Gegner von Johnson die Oberhand gewinnen dürften, wird anschließend mit einer Regeländerung gerechnet. Somit muss Premierminister Boris Johnson frühestens kommende Woche mit einem weiteren Misstrauensvotum rechnen.
Einen freiwilligen Amtsverzicht schließt der Premierminister kategorisch aus. Im Parlament sagte Johnson: "Die Aufgabe eines Premierministers unter schwierigen Umständen, wenn ihm ein starkes Mandat anvertraut wurde, ist es, weiterzumachen, und das werde ich tun."
rb/ust/AR (afp, ap, dpa, rtr)