Brexit: EU nimmt Verfahren gegen London auf
15. Juni 2022Die Europäische Kommission hat juristische Schritte gegen Großbritannien angekündigt, die die Regierung zur Einhaltung des Brexit-Vertrags zwingen sollen. Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic sagte, es gebe keine juristische oder politische Rechtfertigung für die einseitige Änderung einer internationalen Vereinbarung: "Nennen wir die Dinge beim Namen, das ist illegal." Die britische Regierung habe "gegen bedeutende Teile des Nordirland-Protokolls verstoßen", sagte Sefcovic.
Konkret werden zwei neue Vertragsverletzungsverfahren neu eingeleitet und ein drittes wieder aufgenommen. Diese könnten mit einer Geldstrafe für London sowie mit Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg enden. Zugleich wolle die Kommission im Dialog mit der britischen Regierung bleiben und Lösungen im Streit suchen.
Truss' Pläne: Weniger Warenkontrollen, weniger Macht für den EuGH
Das oberste EU-Gericht steht selbst im Fokus der von London angedachten Änderungen: Als Schlichtungsinstanz ist es für den gesamten europäischen Binnenmarkt zuständig, zu dem Nordirland im Zuge eines Brexit-Zusatzprotokolls de facto weiter gehört.
Die britische Regierung hatte schon länger damit gedroht, das von ihr ratifizierte Protokoll außer Kraft setzen zu wollen. Am Montag hatte Außenministerin Liz Truss Pläne für eine einseitige Neuregelung vorgestellt, wonach der EuGH nicht mehr die alleinige Schiedsstelle wäre.
Außerdem will London beim Warenverkehr von Großbritannien nach Nordirland künftig einen Teil der Kontrollen dauerhaft fallen lassen: Waren, die über nordirische Häfen in die EU eingeführt werden sollen, würden rot markiert und weiter kontrolliert. Im Gegenzug soll eine grüne Kennzeichnung sämtliche Produkte, die in Nordirland verbleiben sollen, diese von den Kontrollen befreien.
London gibt sich enttäuscht über die EU-Schritte
Ein Sprecher des britischen Premierministers Boris Johnson in der Downing Street sagte: "Wir sind enttäuscht darüber, dass die EU heute diese rechtlichen Schritte eingeleitet hat." Man werde die Dokumente sorgfältig prüfen und beantworten. Aus Londoner Sicht würden die Vorschläge der EU-Kommission "die Lasten für Unternehmen und Bürger erhöhen und uns zurückwerfen".
Der irische Außenminister Simon Coveney erklärte, die Brüsseler Schritte seien eine Konsequenz auf die britische Strategie, "Provokation über Partnerschaft" zu stellen. Dublin lehnt als direkter Nachbar Änderungen am Nordirlandprotokoll vehement ab.
Protokoll als Dauerthema in London und Belfast
Das Nordirland-Protokoll war eigentlich von der britischen Regierung unter Premier Boris Johnson als Durchbruch verkauft worden, um den Brexit ein für alle Mal hinter sich zu lassen und nach vorne zu schauen. Es sollte ein eigentlich unlösbares Problem umschiffen: Mit dem Brexit strebte das Vereinigte Königreich auch den Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt an, in dem Waren dank einheitlicher Qualitätsstandards und Zollvorschriften nicht beim Grenzübertritt überprüft werden müssen. Gleichzeitig garantiert London mit dem Karfreitagsabkommen den ungehinderten Grenzübertritt zwischen Nordirland und der weiterhin zur EU gehörenden Republik Irland.
Wenige Tage vor dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs hatten sich Brüssel und London darauf verständigt, dass Nordirland de facto im europäischen Binnenmarkt verbleibt - und somit eine Zollgrenze in der Irischen See zwischen Großbritannien und Nordirland entsteht.
In der ehemaligen Bürgerkriegsregion haben sich seitdem viele Unternehmen vom britischen Markt ab- und dem leichter zu erreichenden EU-Markt zugewandt. Die meist protestantischen Unionisten, die für eine möglichst enge Anbindung Nordirlands an Großbritannien eintreten, machen seitdem erfolglos Stimmung gegen das Protokoll. Das Lager steckt in einer politischen Krise, die wiederum den nationalitischen Kräften in die Hände spielt. Aus den Regionalwahlen im Mai ging die pro-irische Sinn Féin als stärkste Kraft hervor. Sie tritt für eine Abspaltung Nordirlands von Großbritannien und einen gemeinsamen Staat mit der Republik Irland ein. Die unionistische DUP blockiert jedoch die Regierungsbildung.
ehl/uh (dpa, rtr, afp)