Gericht weist Länder an, auf Klimaaktivisten zu reagieren
4. September 2020Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Regierungen von 33 Industrieländern aufgefordert, umgehend auf eine Klimaklage zu reagieren, die im September von sechs jugendlichen Aktivisten eingereicht wurde. Das Gericht will den Fall aufgrund der "Wichtigkeit und Dringlichkeit der aufgeworfenen Fragen" mit Priorität behandeln.
Die junge Menschen werfen diesen Ländern – darunter Deutschland, Großbritannien und Portugal – vor, nicht genug dafür getan zu haben, die Emissionen zu senken. Damit sei die Zukunft der jungen Leute in Gefahr.
Unterstützt werden die Kläger vom Global Legal Action Network (GLAN). Die gemeinnützige Organisation geht mit ihren Anwälten, mit Journalisten und Wissenschaftlern weltweit gegen Menschenrechtsverletzungen vor.
Die Klage richtet sich gegen Staaten, deren Anstrengungen nach Ansicht der Juristen nicht ausreichen, um das Pariser Klimaziel zu erreichen. Zur Begründung verweisen die Kläger auf die Angaben des Climate Action Tracker. Die Internetseite berechnet die globale Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts. Berücksichtigt werden dabei die Staaten, die für 80 Prozent der globalen Treibhausgase verantwortlich sind.
Die jungen Kläger sind zwischen acht und 21 Jahre alt. Sie wohnen in Lissabon und Leiria in Portugal. Ihr Vorwurf: Der Klimawandel stellt eine zunehmende Bedrohung für ihr Leben, ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden dar. Sie berufen sich dabei auf die Menschenrechte: das Recht auf Leben, ein unversehrtes Zuhause, den Schutz von Familie und das Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung.
"Unsere Generation lebt in einer Zeit großer Gefahr und Ungewissheit. Deshalb muss unsere Stimme gehört werden", lässt der 12-jährige Andre Oliveira durch seinen Vater übermitteln.
"Es ist nicht so, dass junge Menschen die einzigen sind, die den Auswirkungen des Klimawandels ausgesetzt sind", sagt Gerry Liston, Rechtsanwalt bei GLAN. "Weil sie aber die schlimmsten Auswirkungen spüren werden, sagen wir: Die Folgen einer unzureichenden Bekämpfung der Treibhausgas-Emissionen kommen einer unrechtmäßigen Diskriminierung aufgrund des Alters gleich."
"Es geht nicht darum, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, sondern darum, diesen 33 Regierungen die Chance zu geben, besser und schneller zu handeln", sagt Andre.
Premiere in Straßburg
Zurzeit gibt es einige laufende Klimaverfahren, auch mit jungen Leuten als Klägern. Aber dieser Fall ist der erste seiner Art, der von Kindern und Jugendlichen selbst bis nach Straßburg gebracht wurde. Der 1959 initiierte Internationale Gerichtshof befasst sich mit Verletzungen der Rechte nach der Europäischen Menschenrechtskonvention.
"Es ist dringend notwendig, dass die großen Schadstoffverursacher aktiv werden und maßgeblich etwas gegen die Umweltverschmutzung tun. Das allein rechtfertigte für uns den Gang nach Straßburg und nicht, wie sonst üblich, zu einem inländischen Gericht", erklärt Rechtsanwalt Liston.
Laut GLAN wären die 33 Länder im Erfolgsfall gesetzlich verpflichtet, ihr klimaschädliches Verhalten, auch über Landesgrenzen hinweg, zurückzuschrauben. Das Gleiche gilt für die dort ansässigen multinationalen Unternehmen.
Waldbrände in Portugal
Die Kläger kommen aus drei unterschiedlichen Familien. Auf die Idee zu klagen, kamen die Jugendlichen, nachdem sie durch Bekannte von der Klimaarbeit des GLAN gehört hatten.
Die meisten von ihnen sagen, dass der Klimawandel sie dazu veranlasst hat, endlich etwas zu tun. Aber ganz konkret waren das vor allem die tödlichen Waldbrände 2017 in Portugal.
"Ich habe den Schrecken der Brände direkt miterlebt", sagt die 20-jährige Catarina Mota, eine der vier Kläger aus Leiria, eines der am stärksten betroffenen Gebiete. Der Anstieg des Meeresspiegels, die ständige Bedrohung durch Waldbrände und dass abnormale Temperaturen zunehmen, gehören nun zu ihrer täglichen Realität. "Diese Veränderungen beunruhigen mich", sagt sie und fügt hinzu, dass die Hitze ihr manchmal das Atmen und Schlafen erschwert. Im Juli dieses Jahres wurden im Land die heißesten Temperaturen seit 90 Jahren gemessen.
"Ich will eine Welt, in der man zumindest überleben kann. Deswegen engagiere ich mich nun auch bei der Klage", sagt Catarina. "Denn wenn unsere Regierungen nichts unternehmen, wird gar nichts geschehen."
Solche Klima-Aktionen sind notwendig, "um eine Zukunft und ein gesundes Leben ohne Angst zu haben", ergänzt die 21-jährige Klägerin Claudia Agostinho. "Unsere Generation und die zukünftigen Generationen haben das verdient."
Eine Welle von Klimaprozessen
Die aktuelle Klage in Straßburg ist kein Einzelfall. Weltweit nehmen die Klimaprozesse vor Gericht zu. Die meisten gibt es in den USA, hat das Grantham Research Institute on Climate Change and Environment herausgefunden. Das Forschungsinstitut der London School of Economics and Political Science beschäftigt sich mit dem Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Umwelt. Allein im vergangenen Jahr wurden auf sechs Kontinenten Klimaklagen eingereicht, 80 Prozent davon gegen Regierungen.
Kläger sind demnach in den meisten Fällen Aktivisten oder Interessengruppen. Immer mehr berufen sich in den Klageschriften auf die Verletzung ihrer Menschenrechte.
Viele Staaten – darunter Südkorea, Peru und Kanada – sollen so zur Eindämmung des Klimawandels gezwungen werden. Der jüngste spektakuläre Fall ist der der niederländischen Klima-Initiative Urgenda.
2019 hatte der Oberste Gerichtshof in den Niederlanden geurteilt, dass der Staat die Emissionen drastisch senken muss, im Einklang mit den Menschenrechtsverpflichtungen.
In diesem Sommer gelang es Aktivisten auch, die irische Regierung wegen Versäumnissen beim Klimaschutz vor Gericht zu bringen. Die Klimaaktivistin Greta Thunberg gehört zu den 16 Jugendlichen, die derzeit eine Klage vor dem UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes laufen haben.
Politik, Proteste und Klagen
"Ich denke, ein Fall inspiriert den anderen", sagt Caroline Schroeder von Germanwatch. Die Nichtregierungsorganisation unterstützt neun junge Menschen bei ihrer Verfassungsbeschwerde gegen das Klimaschutzgesetz der deutschen Regierung – und für ihr Recht auf eine menschenwürdige Zukunft.
Für die Organisation ist der Straßburger Fall und der zunehmende Trend zu Klimaklagen eine Konsequenz aus der wachsenden Frustration, die auch die Bewegung "Fridays for Future" antreibt: dass "die Politik nicht genug tut."
"Ich wünschte, wir müssten mit den Fällen nicht vor Gericht ziehen", sagt Roda Verheyen, eine Klimaanwältin, die am "People's Climate Case" arbeitet, der gegen die EU-Institutionen eingereicht wurde. "Aber es ist im Wesentlichen immer noch so, dass der Schutz, den die Gesetzgeber unseren Kindern bieten, zu gering ist. Und deshalb werden die Gerichte weiterhin mit diesen Fällen zu tun haben."
Verheyen verweist darauf, dass der Straßburger Fall weniger konkret ist als andere, an denen sie gearbeitet hat. Denn es geht dabei um eine allgemeine Schutzpflicht. Es wird kein bestimmtes Gesetz infrage gestellt. Dennoch könnte ein Sieg dort weitreichende Auswirkungen für die Mitgliedsstaaten haben, fügt sie hinzu. Selbst eine Niederlage könnte "die Bedeutung des Rechtsstreits sowohl bei nationalen Fällen als auch auf EU-Ebene erhöhen."
Ihre Stärke ist, dass sie den Zeitmangel und die bevorstehende Bedrohung deutlich machen, sagt Liston. "Dieser Fall zeigt, dass es Menschen gibt, die noch zu Lebzeiten unter den schrecklichen Auswirkungen des Klimawandels leiden werden", fügt der Anwalt hinzu.
Der jüngste Kläger ist gerade acht Jahre alt. Im Jahr 2040 wird er 28 Jahre alt sein. Für das Jahr rechnet der UN-Wissenschaftsausschuss mit vielen der schlimmsten Folgen des Klimawandels.
Der zwölfjährige Andre hofft, dass dieser Fall "die Stimme seiner ganzen Generation" stärkt. Einer Generation, die mit großer Angst und zunehmender Furcht vor kommenden Katastrophen lebt. Aber auch einer Generation, die noch voller Hoffnung ist, dass sich etwas ändern wird.
Adaption: Tabea Mergenthaler
Dieser Artikel wurde am 30.11.2020 aktualisiert und um die aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erweitert.