Polen: Was Deutschland tut, ist immer falsch
24. März 2022Es sind ein paar hundert Menschen, die sich am Mittwoch (23.03.2022) Abend vor der deutschen Botschaft in Warschau versammelt haben, um gegen die Russland-Politik der Bundesregierung zu protestieren. Aufgerufen hatte die Zeitung Gazeta Polska Codziennie, die der polnischen Regierungspartei PiS nahesteht, mit der Aufmacher-Schlagzeile "Alle vor die deutsche Botschaft". Jeder, der sich als Patriot verstehe, möge kommen. Wen spricht das an?
"Wegen diesem Herrn" sei er hier, sagt Andrzej, um die 60, und tippt entschieden-nervös auf ein Foto des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz. "Kanzler Scholz, reißen Sie diese Mauer ein", fordert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj darauf. In der anderen Hand hält Andrzej ein Bild von Putin als Totenkopf vor atom-gelbem Hintergrund, darunter steht "Stop Russia", wobei das letzte Wort mit SS-Runen geschrieben ist.
"Scholz unterstützt den Handel mit Moskau. An ihm klebt überall das Blut der Kinder, die von den russischen Verbrechern ermordet wurden", findet Andrzej. Wenige Schritte hinter ihm steht eine etwa gleichaltrige Frau. "Die Ukrainer kämpfen allein und Deutschland tut nichts", beklagt sie. "Was sollte Deutschland denn konkret tun?", möchte ich wissen. "Einfach mehr und alles anders machen". Genaueres ist ihr nicht zu entlocken.
Ein dritter Versuch: Am Rande steht nachdenklich eine ältere Frau. Sie erklärt, sie sei einfach von allem genervt, was die Deutschen machen: "Die deutsche Regierung finanziert Putin. Das ist ein Skandal! Jeder normale Mensch sollte heute hier sein und gegen Deutschland demonstrieren. Die ganze Politik dieses Landes muss korrigiert werden".
Unbehagen wegen Berlins Haltung im Ukraine-Krieg
Auf der Bühne werden derweil Redebeiträge mehr gebrüllt als gesprochen. Auf die Fassade der Botschaft, vor der die Flaggen der Bundesrepublik, der EU und der Ukraine schlaff in der Windstille hängen, haben die Organisatoren der Demo den Text "Don't support Russia" projiziert, unten zerlaufen die roten Buchstaben wie Blut. Die heutigen Deutschen seien zwar nicht dafür verantwortlich, was ihre Vorfahren getan haben, ruft ein Redner, "aber für diesen Krieg wird man sie zur Verantwortung ziehen."
Unbehagen über die Haltung Deutschlands im Krieg um die Ukraine ist in Polen nicht nur unter treuen Lesern regierungsnaher Zeitungen verbreitet. Schon am 25.2.2022, dem Tag nach dem Beginn des russischen Angriffs, versammelten sich hunderte Bürgerinnen und Bürger vor der deutschen Botschaft in Polens Hauptstadt, um - zusammen mit zahlreichen Ukrainern - die Bundesregierung zu strengen Maßnahmen gegen Wladimir Putins Russland zu drängen. "Die Menschen hier und in der Ukraine erwarten Sanktionen", erklärte damals die 32-jährige Katarina, die aus dem Westen des umkämpften Landes stammt, der DW. Sie wünsche sich mehr Unterstützung von Deutschland, fügte sie unter Tränen hinzu.
"Marode Ausrüstung" aus Deutschland?
Am Wochenende 26./27.2.2022 vollführte die deutsche Regierung dann ihre russlandpolitische Kehrtwende. Sie stimmte nicht nur einem Teilausschluss Russlands vom Zahlungssystem SWIFT, sondern auch Waffenlieferungen an die Ukraine zu. Demo-Organisator und Gazeta Polska Codziennie-Chefredakteur Tomasz Sakiewicz besänftigt das nicht. Deutschland habe Waffenlieferungen bis zuletzt blockiert und schicke heute "marode Ausrüstung" in die Ukraine, die das Leben der Verteidiger des Landes gefährde, schrieb er in seinem Protestaufruf.
Bekennende Deutschland-Kritiker wie Sakiewicz stehen heute für ein politisches Spektrum in Polen, das weit über das PiS-Milieu hinausgeht. Schon der Bau der Gasleitung Nord Stream 2 war im nordöstlichen Nachbarland der Bundesrepublik parteiübergreifend abgelehnt worden. Allgemein heißt es heute, dass Berlin zu wenig zur Stärkung der Ukraine tue, zu langsam Entscheidungen treffe, zu sehr abhängig sei von Russland und das Gewicht von Symbolen nicht erkenne.
Die Gefahren des Ausflugs nach Kiew
"Grundsätzlich machen große Krisen und Kriege die Menschen weniger tolerant", meint der in Warschau lebende deutsche Politologe Klaus Bachmann im Gespräch mit der DW. Sozialer Druck zwinge, sich der gemeinsamen Linie anzuschließen. "Da reicht es dann nicht mehr aus, das Richtige zu tun oder zu sagen - man muss es auch im richtigen Moment tun oder sagen, nämlich dann, wenn alle es verlangen", so Bachmann weiter. Genau das sei passiert: "Die Bundesregierung hat eine 180-Grad Wendung gemacht - aber eben ein paar Tage zu spät und nicht radikal genug."
Ähnlich interpretiert Bachmann auch die Ankündigung des deutschen Vizekanzlers Robert Habeck, er würde in die ukrainische Hauptstadt Kiew fahren - wie das PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski und Polens Premier Mateusz Morawiecki zusammen mit den Regierungschefs Tschechiens und Sloweniens bereits in einer spektakulären Zugreise ins Kriegsgebiet getan hatten.
Mehr nachdenken, weniger hinausposaunen
"Nachdem dabei zum Glück alles gut gegangen war, hatte Morawiecki andere Regierungschefs aufgefordert, es ihm gleich zu tun. Hätte Habeck gesagt, dass er dazu nicht bereit ist, wäre er genau in die Falle getappt und stünde als Feigling da", meint Bachmann. Offenbar habe sich niemand von denen, die den "Ausflug nach Kiew" gelobt haben, Gedanken darüber gemacht, welche Folgen es gehabt hätte, wenn Regierungsmitglieder eines NATO-Landes im Kriegsgebiet bombardiert, entführt oder sonst wie zu Schaden gekommen wären.
Problematisch sei, dass sich Öffentlichkeit und Medien viel stärker auf das konzentrierten, was Politiker sagten, als auf das, was sie tatsächlich täten, so Bachmann weiter. Das verschaffe extremen Positionen mehr Einfluss als moderaten. So erscheine der aktuelle US-Präsident Joe Biden schwächer als sein Amtsvorgänger Donald Trump. Der habe stets eine "große Klappe" gehabt - aber seine Taten hätten vor allem Chaos angerichtet. "In dieser gefährlichen Lage wäre es für alle Beteiligten besser, wenn sie mehr nachdenken, weniger hinausposaunen und mehr mit- anstatt übereinander reden würden", kritisiert Politologe Bachmann. "Das gilt gerade innerhalb der EU und der NATO."
Geht es nach den PiS-nahen Einpeitschern in Polen, ist aber ohnehin immer alles falsch, was Deutschland tut. "Die Kritik dieser Leute ist sehr widersprüchlich", sagt Bachmann und verweist auf Warnungen Kaczynskis kurz vor Kriegsausbruch, Deutschland wolle in Europa ein "4. Reich" errichten. "Er hatte recht, aber in der Himmelsrichtung hat er sich geirrt." Polnische rechte Medien und sogar Regierungsvertreter kritisierten Deutschland einerseits für Aggressivität und Kritik an Polen - zugleich aber für Pazifismus und fehlende Aufrüstung gegenüber Russland.
"Und jetzt, wo Deutschland aufrüstet, weckt das sofort alte Ängste vor deutschem Militarismus - aber das kann man jetzt in Polen nicht kritisieren, denn die Aufrüstung ist ja gegen Russland gerichtet." Also kritisiere man nicht, was die Bundesregierung tut, sondern, dass sie es zu spät tut. "So bleibt das gewohnte Weltbild erhalten, man kann gleichzeitig anti-deutsch und anti-russisch sein."