Polen: Chaos beim Kampf gegen Inflation
23. Januar 2022Daniel Kaczmarczyk betreibt seit acht Jahren den Friseursalon Mixtura in Posen/Poznan. In dieser Zeit musste er nur dreimal kleine Preiserhöhungen vornehmen - bis zum Herbst 2021, als er seine Preisliste radikal änderte. "Die erste große Preiskorrektur war im September, die zweite mussten wir jetzt im Januar vornehmen. Denn alle Preise sind nach oben gegangen. Unsere Lieferanten schrieben uns, dass Kosmetika um 10 bis 30 Prozent teurer werden, ganz zu schweigen von den hohen Strom- und Heizungspreisen und steigenden Sozialversicherungsbeiträgen", berichtet Kaczmarczyk in der polnischen Zeitung Gazeta Wyborcza.
Sein Salon ist zwar in Betrieb, weil es in Polen - trotz hochschnellender Infektionszahlen - im Moment kaum Einschränkungen wegen COVID-19 gibt. Doch wegen früherer Lockdowns sei er "finanziell kaputt". Es gebe inzwischen insgesamt weniger Kunden als früher. Zudem würden die Einwegaccessoires, die mit der Pandemie Pflicht geworden seien, die Kosten ebenfalls erhöhen. "Leider weiß ich nicht, ob es für mich in Zukunft noch rentabel sein wird, in unserem Land Geschäfte zu machen, wenn ich mir die Richtung anschaue, in die sich das alles entwickelt", so Kaczmarczyk.
Ausufernde Inflation
Polen erlebt gerade die höchste Inflation seit 20 Jahren. Im Dezember 2021 betrug sie 8,6 Prozent. Nach Berechnungen der polnischen Arbeitgeberorganisation Lewiatan seien die Preise für Erdgas im Dezember 2021 im Vergleich zum selben Monat des Vorjahres um 52,3 Prozent, die für Benzin um 30 Prozent gestiegen. Auch die Lebensmittelpreise wuchsen im selben Zeitraum - beispielsweise für Geflügel um 30 Prozent, für Rindfleisch um 19 Prozent, für Zucker um 22 Prozent.
Anfang Januar führte Premierminister Mateusz Morawiecki von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) einen "Anti-Inflations-Schild 2.0" ein, mit dem die Steuern für Benzin, Gas und Nahrungsmittel für ein halbes Jahr gesenkt bzw. ganz abgeschafft werden. Zuvor hatte er kurz vor Weihnachten die Kraftstoffsteuer gesenkt, was Benzin um etwa fünf Prozent billiger machte. Die neuen Maßnahmen sollen den Spritpreis noch einmal um zwölf Prozent senken.
Radikale Maßnahmen der Regierung
"Die Schutzmaßnahmen werden die Inflation im Januar auf 8,1 Prozent reduzieren", schätzt der Lewiatan-Experte Mariusz Zielonka, zitiert von der polnischen Presseagentur PAP. Die Preise würden aber in den nächsten Monaten nicht sinken, und nach dem Auslauf der Maßnahmen im Sommer sei ein Preisanstieg zu erwarten.
Für den liberal-konservativen Wirtschaftsexperten Andrzej Sadowski, seit 2015 Mitglied im Nationalen Entwicklungsrat des polnischen Präsidenten Andrzej Duda, zeugen die radikalen Maßnahmen von einer generellen Fehleinschätzung der Lage durch die Regierung. Sie hatte Steuersenkungen wie die derzeitigen vor kurzem noch ausgeschlossen. "Es handelt sich eindeutig um eine Krisensituation, in der die Inflation außer Kontrolle geraten ist", sagt Sadowski der DW.
Eine Reform mit Tücken
Auch der im Mai 2021 angekündigte "Polnische Deal" (Polski Lad), der seit Anfang Januar in Kraft ist, scheint nach hinten loszugehen. Das erklärte Ziel der national-konservativen Regierung waren zusätzliche Steuereinnahmen zur Aufstockung der Finanzen für das marode Gesundheitswesen. Diejenigen, die umgerechnet über 2500 Euro brutto verdienen, sollten höhere Steuern zahlen. Für alle anderen, also laut Regierungsangaben für rund 90 Prozent der Polen, sollte die Reform "günstig oder neutral" werden, wie Premierminister Morawiecki erklärt hatte.
Doch das fast 700 Seiten zählende Dokument zeigt sich als eine Auflistung von oft unklaren Regelungen und Ausnahmen, die die Bürokratie ausufern lassen und für Fachleute nur schwer zu begreifen sind. In der zweiten Januarwoche hatten tausende Lehrer und Polizeibeamte, also theoretisch die Gewinner des Polnischen Deals, weniger Geld auf ihr Konto bekommen statt, wie erwartet, mehr. Die Regierung gab den Fehler zu, Premier Morawiecki bat um Entschuldigung. "Es ist oft so, dass man gerade dann einen Fehler begeht, wenn man eine Sache besonders gut machen will", sagte er.
Widerstand gegen die Reform
Die meisten Buchhalter in Unternehmen und im öffentlichen Dienst sind vom Ausmaß der neuen Bürokratie völlig überfordert. Die Vereinigung der Wirtschaftsprüfer appellierte deshalb an den Premier, die Reform um ein Jahr zu verschieben. Dasselbe fordert der Dachverband der polnischen Wirtschaftsorganisationen. In einem Brief an Morawiecki ist von "übereilten Gesetzesänderungen", "Fallstricken" und "Auslegungsproblemen" die Rede, die erst in den kommenden Monaten noch richtig zutage treten würden.
Die Unternehmer leiden zudem unter einer drastischen Erhöhung der Sozialversicherungsabgaben - eine Maßnahme, die sie teuer zu stehen kommt. Dabei wird das erklärte Ziel der Steuerreform, das unterfinanzierte Gesundheitssystem zu stützen, nach Ansicht von Experten ohnehin verfehlt. Einfach nur mit Geldzuschüssen, meint beispielsweise Andrzej Sadowski, könne das Gesundheitswesen nicht reformiert werden.
"Steuer-Revolution"
Der Premier Morawiecki nennt das Projekt eine "Steuer-Revolution". Zielgruppe der PiS sind Lehrer, Beamte, Geringverdiener und Großfamilien. Man wolle, so Morawiecki, die "gesellschaftliche Gerechtigkeit" wieder herstellen, indem man nur "die reichsten Polen" zur Kasse bitte. Kritisiert werde das Vorhaben nur von "realitätsfernen Finanz- und Metropoleneliten", so der Premier, der selbst einmal Vorstandschef einer der größten polnischen Privatbanken war.
Für Sadowski erklärt gerade die Wortwahl des Premiers das herrschende Chaos. "Wenn das Wort Revolution verwendet wird, impliziert es notwendigerweise die Schaffung revolutionärer Effekte, und das bedeutet Chaos und Verwirrung", sagt der Wirtschaftsexperte.
Derzeit versucht die Regierung krampfhaft, durch kurzfristige Verordnungen Lücken im Projekt zu schließen. Doch die Unzufriedenheit der Menschen steigt. Umfragen, die kurz nach der Einführung der Steuerreform durchgeführt wurden, zeigen, dass die Unterstützung für die regierende PiS rapide sinkt. Viele Kommentatoren sehen das als direkte Folge des Steuerchaos wie auch der hohen Preise, die trotz der Anti-Inflations-Maßnahmen immer noch steigen.