Polen im Visier der belarussischen Propaganda
25. September 2022"Wenn Putin von der Bedrohung durch die NATO spricht, meint er die USA und vielleicht Großbritannien. Wenn Lukaschenko von der Bedrohung durch die NATO spricht, meint er Polen und Litauen", sagt der polnische Journalist Michal Potocki. Er glaubt, dass der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko es als Bedrohung empfindet, dass der polnische TV-Sender "Belsat" von Polen aus in belarussischer Sprache nach Belarus sendet und dass sich die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Vilnius aufhält.
Lukaschenkos Polen-Bild hänge vor allem mit den Ereignissen vom August 2020 zusammen, als es zu Massenprotesten gegen die gefälschte Präsidentenwahl kam, erläutert der belarussische Historiker Alexander Friedman. "Lukaschenko glaubt, nur weil Nexta in Warschau sitzt, der polnische Staat dahintersteckt", so Friedman. Der oppositionelle Telegram-Kanal wurde von dem in Warschau lebenden Aktivisten Stepan Putilo gegründet. Nexta war während der Proteste wegen seiner Berichterstattung beliebt - über 2 Millionen Abonnenten haben sich dort über das Geschehen informiert. Er wurde in Belarus als extremistisch eingestuft.
Der belarussische Politologe Alexander Klaskowskij hingegen betont, dass Lukaschenko schon immer antiwestlich war. Aber nachdem er "zum Komplizen von Russlands Aggression gegen die Ukraine wurde", habe sich seine Rhetorik verschärft. Mit Äußerungen wie "wenn wir nicht zugeschlagen hätten, hätten sie uns zuerst angegriffen", wolle Lukaschenko sich nur rechtfertigen, so Klaskowskij.
Woher kommt Lukaschenkos Antipathie gegenüber Polen?
Friedman geht davon aus, dass Lukaschenkos Ablehnung gegenüber dem Nachbarland noch in der Sowjetzeit entstand. Damals habe Polen als ein Land gegolten, das noch von der "Feudalzeit" geprägt sei. Auch der belarussische Politologe Alexander Klaskowskij sagt, Lukaschenko sei voreingenommen, was auf Klischees über die "polnische ausbeutende herrschende Klasse" beruhe. "Er denkt, dass die Polen die Hälfte oder sogar ganz Belarus erobern wollen. In Wirklichkeit verfolgt kein einziger ernsthafter Politiker in Polen revanchistische Ideen", so Klaskowskij.
Ihm zufolge manipuliert die belarussische Propaganda mit historischen Themen. "In der Tat gab es eine Zeit, als der westliche Teil von Belarus unter polnischer Herrschaft stand und die dort lebenden Belarussen nicht gut behandelt wurden. Aber sollten diese Wunden aufgerissen werden? Die Polen und Ukrainer beweisen heute, dass historische Ressentiments beiseite gelegt werden können", so der Politologe.
Zur Ansicht des Leiters der belarussischen staatlichen Gesellschaft "Wissen", Wadim Gigin, wonach Minsk von Warschau für die Jahre 1921 bis 1939 Reparationen verlangen sollte, als der Westen von Belarus Teil Polens war, sagt der Historiker Alexander Friedman: "Dieses Thema ist vor dem Hintergrund polnischer Forderungen gegenüber Deutschland aufgetaucht und wird von der Propaganda in Belarus und Russland aufgegriffen." Laut Friedman sind die belarussischen Ansprüche aber aus rechtlicher Sicht völlig unhaltbar.
Zerstörung von Gräbern der polnischen Heimatarmee
Belarus habe schwierige Beziehungen zu allen seinen Nachbarn, nur mit Russland traue man sich nicht, sich anzulegen, meint Klaskowskij. Dafür trampele man buchstäblich auf den Polen herum, und zwar auf den Gräbern polnischer Soldaten.
Im Juli waren in Belarus Gräber von Soldaten der polnischen Heimatarmee (AK) zerstört worden, was in Warschau Empörung auslöste. Die Armee war eine Widerstands- und Militärorganisation im von Deutschland besetzten Polen während des Zweiten Weltkrieges. Sie bestand aus Freiwilligen, die sich die Befreiung Polens von der deutschen Besatzungsmacht zum Ziel gesetzt hatten. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Roten Armee wurden sie entwaffnet, viele Offiziere erschossen oder in den Gulag geschickt. Ein Teil setzte den Widerstand fort, nun aber gegen die kommunistische Herrschaft.
Der Historiker Alexander Friedman glaubt, dass die Zerstörung der Gräber die sowjetische Haltung gegenüber Grabstätten nachzeichnet: "Wenn es keine eigenen Friedhöfe sind, sondern die von Feinden, dann werden sie einfach zerstört. So ging die Sowjetmacht zum Beispiel mit jüdischen und katholischen Friedhöfen um, aber auch mit deutschen nach dem Krieg. Die Gräber von Soldaten der Heimatarmee sind aus Sicht der belarussischen Staatsmacht feindliche Grabstätten."
Es sei auch kein Zufall, so der Historiker, dass sich die belarussische Propaganda auf die Heimatarmee oder das Polen der 1920er Jahre konzentriere. Diese Periode nehme einen besonderen Platz in der polnischen Erinnerungskultur ein: "Für die heutige konservative Regierung Polens ist dies ein wichtiger Abschnitt der Geschichte, und auf diese Zeit einzuschlagen bedeutet auch, auf die heutige polnische Regierung einzuschlagen."
Erreicht die belarussische Propaganda ihre Ziele?
Die Zerstörung von Gräbern und Reparationsforderungen sind, so Michal Potocki, Themen, die Warschau weh tun. Das wisse man in Minsk. Der Journalist weist noch darauf hin, dass unabhängige Organisationen der polnischen Minderheit in Belarus unterdrückt und polnische Schulen geschlossen werden.
In diesem Zusammenhang erinnert Alexander Klaskowskij daran, dass Lukaschenko angekündigt habe, die "Orientierung" der belarussischen Staatsbürger zu klären, die im Besitz einer "Karta Polaka" sind, eines Ausweises, der vom polnischen Staat vergeben wird und die Zugehörigkeit einer Person zur polnischen Nation bestätigt. Über 160 Tausend Belarussen mit polnischen Wurzeln besitzen so ein Dokument. Solche Personen sollten sich, so Lukaschenko, bei den belarussischen Behörden melden. Aus Lukaschenkos Sicht seien diese Personen die sogenannte "fünfte Kolonne", belarussische Staatsbürger, die Polen loyal seien, so Klaskowskij.
Trotz der ganzen Propaganda wird dem Historiker zufolge Polen von der belarussischen Gesellschaft aber nicht als Feind wahrgenommen. Laut Meinungsumfragen funktionieren die Narrative der Propaganda nicht, und von den Menschen in Polen wird die Rhetorik der belarussischen Behörden fast gar nicht wahrgenommen. "Man diskutiert zwar darüber, aber das ist nicht Thema Nr. 1. Die Polen sprechen über die Wirtschaftslage und die Energiekrise, und wenn es um Außenpolitik geht, dann natürlich über die Ukraine. Was Lukaschenko betrifft, so gilt er nur als Vasall Russlands", sagt der polnische Journalist Michal Potocki.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk