Polen: Ein Syrer sucht seine Eltern
8. November 2021Seit zwölf Jahren hat Haval Rojava* (33) Mutter und Vater nicht gesehen. Seit 2009 lebt der Kurde aus Syrien in Österreich, wo er sich als Friseur selbstständig gemacht hat. Er habe sich dort eine Existenz aufgebaut, berichtet Haval - doch jetzt drohe alles zu scheitern. Haval verliert Kunden, seine Angstzustände werden immer größer. Und doch könne er gerade nirgendwo anders sein als in Polen: So nah wie möglich bei seinen Eltern.
Mutter (55) und Vater Rojava (60) stecken nach Havals Aussagen seit mehreren Tagen in den Wäldern im belarussischen Grenzgebiet zu den EU-Staaten Polen und Litauen fest - ohne Essen, Trinken und Medikamente. Wann immer die beiden eine Möglichkeit fänden, ihre Handys aufzuladen, nutzten sie sie, berichtet der Sohn der DW. Zweimal habe er sie mit Hilfe einer Lokalisierungs-App geortet - nun aber seien seine Eltern schon seit Tagen nicht mehr zu erreichen. "Es war wohl eine schlechte Idee, nach Belarus zu kommen", fügt der junge Mann selbstkritisch hinzu.
Haval hat ein Zimmer in einem polnischen Hotel unweit der Grenze zu Belarus gemietet. Während des Gesprächs mit der DW liegt die ganze Zeit sein Handy neben ihm, das immer wieder klingelt. Ab und zu nimmt Haval ab und entschuldigt sich: Der Anruf könne wichtig sein. Er hofft, dass das nächste Klingeln ihn wenigstens im übertragenen Sinne einen Schritt näher zu seinen Eltern bringt. Er weiß: Von Mutter und Vater trennen ihn nicht einmal 30 Kilometer Luftlinie. Und doch bleiben die beiden vorerst unerreichbar.
"Meine Eltern sind nicht wegen Geld oder wegen des Krieges in Syrien nach Belarus gekommen", berichtet Haval. Auch seine zwei Schwestern lebten seit Jahren in Deutschland, ein weiterer Bruder, so wie er selbst, in Österreich. "Meine Mama hat einfach gesagt, ich habe meine Kinder über zehn Jahre nicht gesehen. Sie und mein Vater könnten sich gar nicht in Österreich einleben, sie haben eine ganz andere Mentalität. Der einzige Grund, wieso sie jetzt in dieser Situation stecken, ist, dass sie ihre Kinder sehen wollten", erzählt Haval.
Das Dilemma der Muslime
Seine Eltern, so Haval, hätten das Ticket nach Minsk in einem Reisebüro in Syrien gekauft. Solche Reisen würden dort an jeder Ecke angeboten - und er habe das bisher sehr gut gefunden. "Ich habe nur daran gedacht, dass ich Mama und Papa endlich wiedersehen kann." Haval erzählt, er sei aus Syrien geflohen, weil der Krieg dort nicht sein Krieg sei. Dafür, dass er sich dem Militärdienst entzogen habe, drohe ihm in der Heimat die Todesstrafe.
"Aber auch, wenn mich jetzt einer vom IS anhalten würde, würde der mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich Kurde bin", sagt Haval. "Es ist doch so: Wir laufen vor den Fundamentalisten weg, weil sie uns umbringen wollen. Aber wenn wir dann an Europas Grenzen ankommen, hören wir, wir seien Muslime. Du läufst also weg, weil du einen sicheren Platz suchst, wo dich die Fundamentalisten nicht kriegen, und dann wirst du abgewiesen, weil du Muslim bist. Weißt Du, wie schwer das ist?", fragt er. Dann geht er kurz hinaus. Sein Telefon hat geklingelt - doch auch dieser Anruf bringt nichts Neues.
Ausnahmezustand im Grenzgebiet
Im Hotel hat Haval die Aktivistin Magdalena Luczak von der polnischen Hilfsorganisation "Grupa Granica" (Gruppe Grenze) kennengelernt. Die berichtet, der junge Syrer habe sich ihr anvertraut, als er sah, wie sie und andere Unterstützerinnen und Unterstützer Hilfspakete für Migranten packten.
"Er wusste weder, dass bei uns im Grenzgebiet Ausnahmezustand herrscht, noch dass auch Polen nicht ohne Genehmigungen in die Sperrzone dürfen", sagt Magdalena Luczak der DW. "Das hat ihn schockiert. Er dachte, er könne wenigstens an die Grenze gehen und dort seinen Eltern Essen, Getränke und warme Sachen hinüberwerfen. Als er bemerkte, dass auch wir nichts machen können, war er verzweifelt." Ihrer Meinung nach liegen Havals Chancen, seine Eltern zu sehen, bei Null. Sie schätzt, dass Mutter und Vater bereits mehrere Pushbacks erlebt haben könnten.
Kein Flüchtlingsstrom
Was sie an der Grenze erlebe, sei "viel schlimmer", als sie vorher gedacht hätte, so Luczak weiter. Es gehe um einzelne Menschen und ihre Schicksale - nicht um einen Flüchtlingsstrom: "Niemand fragt uns hier nach finanzieller Hilfe. Alle bitten nur um eins: eine Möglichkeit, zu überleben und in einem sicheren Land zu sein", erklärt die Helferin.
Auch Haval unterstreicht mehrmals während des Gesprächs mit der DW, seine Eltern seien vermögend und daher nicht auf finanzielle Hilfe angewiesen. "Kein armer Mensch kauft ein Ticket für 16.000 oder 20.000 Euro. Zeig mir einen Polen oder einen Europäer, der ein Ticket für so viel Geld kauft. Die Menschen, die hier im Grenzgebiet unterwegs sind, haben Geld - aber im Krieg bist du trotzdem nicht sicher."
Warnschüsse aus Belarus
Auf der Suche nach Sicherheit seien seine Eltern und die anderen Migrantinnen und Migranten in Belarus aber in keine sichere Situation geraten. Grenzschützer beider Seiten belauern sich. Das polnische Verteidigungsministerium meldete zuletzt wiederholt "Provokationen": Belarussische Uniformierte hätten Warnschüsse abgegeben, den provisorischen Stacheldrahtzaun beschädigt und seien auf polnisches Territorium vorgedrungen. Vielleicht schon nächstes Jahr soll eine fünfeinhalb Meter hohe Stahlkonstruktion mit Stacheldrahtkrone die polnische Seite der Grenze sichern, die auch EU-Außengrenze ist. Die Sperranlagen sollen zumindest zum Teil mit Bewegungssensoren und Kameras ausgestattet werden.
"Die Sperre, die wir an der Grenze Polens zu Belarus errichten wollen, ist ein Symbol für die Entschlusskraft des polnischen Staates", verkündete der polnische Innenminister Mariusz Kaminski Anfang November 2021. Er betonte, die illegale Migration nach Polen habe keine "natürlichen" Ursachen; bei den Vorgängen an der polnischen Ostgrenze handele es sich vielmehr um einen "hybriden Krieg" des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenkos gegen Polen.
Hilfe für die Migranten
Haval berichtet von ausschließlich positiven Begegnungen mit Polinnen und Polen in der Kleinstadt, in der er ausharrt. Viele der Menschen dort wollten den Migrantinnen und Migranten auf der belarussischen Seite der Grenze helfen. Aber die Haltung der polnischen Politik begreift Haval nicht. "Ich verstehe nicht, wie die Politiker ruhig schlafen können. Sie haben doch auch Familien!" Die Polen hätten während der nazideutschen Besatzung 1939-45 ganz Ähnliches erlebt wie die Syrer heute, fügt er verzweifelt hinzu.
Seit Anfang September 2021 kommen auch Journalisten nicht mehr in das drei Kilometer breite Sperrgebiet an der Grenze zu Belarus. Sich selbst einen Eindruck von den Zuständen dort zu verschaffen, ist also nicht möglich - aber wie angespannt die Lage dort ist, merkt man bereits, wenn man durch die nicht gesperrten Teile der dicht bewaldeten Region fährt. Immer wieder sind Polizeiautos zu sehen, die Fahrzeuge mit ausländischen Kennzeichen anhalten.
Katarzyna Zdanowicz vom polnischen Grenzschutz in Bialystok bestätigt, ihre Behörde wisse von ähnlichen Fällen wie dem Havals: von Familienangehörigen mit sicherem Aufenthaltsstatus in EU-Ländern, die nach Polen kommen, um ihre Verwandten nachzuholen. "Aber wir wissen auch von Kriminellen, die diese Situation ausnutzen und für ein paar Tausend Euro pro Person diese Migranten von der Grenze abholen und landesweit transportieren wollen", sagt Zdanowicz der DW.
Wiedersehen nach zwölf Jahren
Auf die Frage, wie lange er angesichts der ungewissen Situation in Polen bleiben wolle, zuckt Haval mit der Schulter und sagt, er wisse es nicht. "Klar, es gibt viel Stress zwischen Polen und Belarus, aber diese Leute dort im Wald sind doch nicht schuld!", sagt er, bevor er erneut zu seinem Telefon greift.
Doch dann, kurz vor Veröffentlichung dieses Textes, kommt eine neue Nachricht: Havals Mutter sei kurz in einem Krankenhaus in Polen gewesen, berichtet die Aktivistin Magdalena Luczak am Telefon. Sie sei in schlechter Verfassung - aber immerhin hätten Mutter und Sohn sich nach zwölf Jahren das erste Mal wieder sehen können, wenn auch nur eine Viertelstunde lang.
Nun halte sich Havals Mutter in Bialystok auf, so Luczak weiter, in den Räumlichkeiten der polnischen Stiftung Dialog, die unter anderem kranken Migranten hilft. Der polnische Grenzschutz bestätigte, dass die Frau in Polen als Asylbewerberin registriert worden sei. Wo sein Vater ist und wie es ihm geht, weiß Haval dagegen noch immer nicht: Die Eltern hatten sich im Grenzgebiet offenbar verloren, bevor die Mutter die polnische Grenze übertrat.
*Name geändert