EU will Polen bestrafen
7. September 2021Der zähe und schon fast endlos scheinende Streit zwischen der Europäischen Union und Polen um die Rechtsstaatlichkeit des Landes geht in die nächste Runde. Jetzt wird es ernst für Polen, denn diesmal soll es der nationalkonservativen Regierung in Warschau an den Geldbeutel gehen. Es drohten ziemlich harte Geldstrafen, meint Marek Prawda, ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland. "Das ist natürlich die Sprache, die man versteht", sagte Prawda der DW. Die Regierung in Warschau habe wohl nicht damit gerechnet, dass die EU-Kommission wirklich so weit gehen würde, und Geldstrafen beim Europäischen Gerichthof beantragen würde.
Die EU-Kommission will die polnische Regierung bestraft wissen, weil Polen eine einstweilige Anordnung des Europäischen Gerichtshofes vom 14. Juli nicht ausreichend umsetzt. Darin hatte das höchste EU-Gericht Polen angewiesen, die Arbeit der Disziplinarkammer für Richter sofort einzustellen und die Kammer aufzulösen. Diese Kammer, die nach Auffassung der EU die Unabhängigkeit der Richter und damit den ganzen Rechtsstaat in Polen gefährdet, arbeitet trotz einiger kosmetischer Korrekturen nach Ansicht von EU-Justizkommissar Didier Reinders weiter. Deshalb soll Polen jetzt täglich eine Geldstrafe zahlen, so lange bis die umstrittene Disziplinarkammer wirklich aufgelöst ist und suspendierte Richter wieder ins Amt zurückkehren können.
Außergewöhnliches Mittel und scharfe Kritik
"Das ist schon ein sehr drastische und außergewöhnliche Maßnahme, die es bisher nur ein einziges Mal in der EU-Geschichte gegeben hat," sagte eine hohe EU-Beamtin in Brüssel. 2017 war - ausgerechnet auch - Polen zu einer Geldstrafe von täglich 100.000 Euro verurteilt worden. Damals hatte die PiS-Regierung in Polen ebenfalls gegen eine einstweilige Anordnung des Europäischen Gerichtshof verstoßen und das Abholzen eines geschützten Urwaldes nicht sofort gestoppt. Noch 2017 lenkte die polnische Regierung schließlich ein.
Diesmal ist sie wohl eher auf eine schärfere Konfrontation aus, schließlich geht es um den Umbau der Justiz in Polen, einem zentralen Anliegen der Nationalkonservativen. Der stellvertretende polnische Justizminister Sebastian Kaleta feuerte einen empörten Tweet ab, in dem er der EU-Kommission eine "unrechtmäßige Attacke" auf Polen vorwirft. Das Verfahren sei ein "aggressiver Akt" der EU-Institutionen.
Der Europäische Gerichtshof hatte am 15. Juli, also einen Tag nach der einstweiligen Anordnung zur Richterkammer, in einem abschließenden Urteil befunden, dass viele Elemente der polnischen Justizreform den Rechtsstaat in Polen massiv untergraben und geändert werden müssten. Die Disziplinarkammer für Richter ist dabei nur ein Teil des Problems. Weil die polnische Regierung keine Anstalten macht, dieses Urteil umzusetzen, hat die EU-Kommission heute förmlich ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eröffnet.
"EU-Recht muss respektiert werden"
"Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes müssen in der gesamten EU respektiert werden. Nur so kann das notwendige gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten und den Bürgern aufgebaut und gestärkt werden", sagte die für Rechtsstaatlichkeit zuständige EU-Kommissarin Vera Jourova in Brüssel. Gerade diesen Vorrang Europäischen Rechts bestreitet die polnische Regierung. Der polnische Verfassungsgerichtshof, der mittlerweile mit regierungstreuen Richterinnen und Richtern besetzt ist, hatte im Juli geurteilt, dass einstweilige Anordnungen des Europäischen Gerichtshofes in Sachen Justizwesen in Polen ungültig seien. Am 22. September will das Verfassungstribunal auf Antrag von Premierminister Mateusz Morawiecki darüber befinden, ob polnisches Verfassungsrecht generell über Europäischen Recht steht. "Ein solches Urteil würde die gesamte Rechtsordnung und damit die Grundlagen der EU gefährden", warnen EU-Juristen in düsteren Szenarien in Hintergrundgesprächen in Brüssel.
Wie hoch die Geldstrafe ausfallen wird, die der Europäische Gerichtshof jetzt jederzeit verhängen könnte, ist unklar. Das Gericht hat freie Hand und wird die "Schwere des Falls" und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des verurteilten Staates berücksichtigen. Die Strafe könnte auch rückwirkend vom 14. Juli angelten, dem Tag, an die einstweilige Anordnung erging. Sollte die polnische Regierung die Strafzahlungen nicht pünktlich und vollständig an die EU-Kommission überweisen, würde die Kommission fällige Zahlungen an Polen aus dem EU-Haushalt zurückhalten.
Milliarden-Poker im Streit um Rechtsstaatlichkeit
Im Hintergrund schwelt außerdem der Streit zwischen Warschau und Brüssel um sehr viel mehr Geld. Die EU-Kommission hat bislang wegen rechtsstaatlicher Bedenken den Wiederaufbauplan für Polen nicht gebilligt. Aus dem Corona-Fonds stünden Polen rund 58 Milliarden Euro an Zuschüssen und preiswerten Krediten zu. Der Chef der PiS-Partei, Jaroslaw Kaczynski, will mit dem Geld Förderprogramme finanzieren, um bei den anstehenden Wahlen im nächsten Jahr gut da zu stehen. In Brüssel vermuten Beobachter, dass die EU-Kommission das Aufbaupaket für Polen erst nach dem ausstehenden Urteil des Verfassungstribunals zum Vorrang von EU-Recht Ende September behandeln will. 18 der 27 Mitgliedsstaaten wurde ihr Aufbauplan bereits genehmigt. 10 erhielten bereits erste Auszahlungen, darunter Deutschland.
Seit diesem Jahr hätte die EU-Kommission auch die Möglichkeit, bei allen Auszahlungen aus dem EU-Haushalt eine Prüfung der Rechtsstaatlichkeit des Empfängerlandes vorzunehmen. Gibt es nach Auffassung der Kommission keine unabhängigen Gerichte, dann gibt es kein Geld, weil kein Schutz vor Willkür bestünde. Gegen diesen "Rechtsstaatsmechanismus" wiederum haben Polen und Ungarn ihrerseits vor dem Europäischen Gerichtshof Klage erhoben. Solange diese Klage nicht entschieden ist, lässt die EU-Kommission das scharfe Schwert des "Rechtsstaatsmechanismus" in der Scheide. Das allerdings kritisiert das Europäische Parlament äußert scharf. Das Parlament will, das die Kommission bereits jetzt gegen Polen und Ungarn vorgeht. Um das zu erzwingen, hat das Europäische Parlament - man ahnt es bereits - seinerseits eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof angekündigt. Der verzwickte Streit um die Rechtsstaatlichkeit geht also auf etlichen Schauplätzen weiter.