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PolitikEuropa

Zäher Streit um den Rechtsstaat

16. August 2021

Sollte die polnische Regierung im Streit um rechtsstaatliche Mängel nicht einlenken, kann die EU heftige Geldstrafen verhängen. Wird es soweit kommen? Bernd Riegert aus Warschau.

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Polen Rechtsstaat
Das Bild der einträchtigen Flaggen vor dem Präsidentenpalast in Warschau trügt: Es wird heftig gestrittenBild: Bernd Riegert/DW

Am 16. August lief wieder einmal eine Frist der EU-Kommission an die polnische Regierung im seit Jahren währenden Streit um den Umbau des Justizwesens aus. Diesmal drohen zum ersten Mal empfindliche Geldstrafen, sollte die polnische Regierung nicht dafür sorgen, dass die vom Europäischen Gerichtshof als rechtswidrig eingestufte Disziplinarkammer für Richter sofort ihre Arbeit einstellt. Die Kammer ist für Disziplinarverfahren gegen Richter zuständig und kann diese auch suspendieren. 

Einer der Richter, der zum Opfer dieser Disziplinarkammer wurde, Igor Tuleya, hat nur noch wenig Hoffnung, dass die EU oder der Europäische Gerichtshof die Unterwerfung der Justiz unter den Willen der nationalkonservativen Regierungspartei PiS aufhalten kann.

"Europa sollte natürlich entschlossener und viel schneller handeln. Was in Polen mit der Justiz passiert, weiß die ganze Welt seit fast sechs Jahren und tut nichts dagegen. Und die Aktionen der Europäischen Kommission sind ziemlich lächerlich", sagte Tuleya in Warschau. 

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Richter Igor Tuleya mit der Robe des Bezirksgerichts, die er nicht mehr tragen sollBild: Bernd Riegert/DW

Finanzieller Druck als Hebel?

Richter Tuleya, der nicht mehr auf dem Richterstuhl des Bezirksgerichts in Warschau sitzen darf, ringt seit sechs Jahren mit Staatsanwälten, Gerichten und der Disziplinarkammer, die ihn nach 25 Jahren im Beruf mundtot machen wollen. Er ist kritisch gegenüber der PiS eingestellt und wirft, wie viele seiner Kollegen, Anwälte und Oppositionelle der Regierung vor, sie schaffe die Unabhängigkeit der Richter ab. Eine der Grundlagen jedes Rechtsstaates in der EU.

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Hoffen auf die EU: Proteste mit der Europa-Flagge vor dem polnischen Parlament SejmBild: Bernd Riegert/DW

"Es geht ja nicht darum, wie Polen seine unabhängige Justiz organisiert, sondern ob es eine solche überhaupt noch gibt", meint der ehemalige EU-Botschafter in Polen, Marek Prawda. Der polnische Karriere-Diplomat, der auch Botschafter in Berlin war, geht davon aus, dass das Rad noch zurückgedreht werden kann. Jetzt, wo der PiS-Regierung klar werde, dass es im Streit mit Brüssel wirklich auch um Geld geht, scheint ein Einlenken denkbar.

"Und auf der europäischen Ebene ist natürlich die Frage, ob die Gerichtsurteile aus Polen als fair und frei anerkannt werden können", sagt der EU-Kenner Prawda. Wenn die EU-Kommission argumentieren kann, dass es keinen Rechtsschutz mehr gibt in Polen, muss sie auch kein Geld, keine Zuschüsse mehr nach Warschau überweisen.

Zwei Schritte vor, einen zurück

Der stellvertretende Ministerpräsident und PiS-Vorsitzende, Jaroslaw Kaczyinski, kündigte an, dass die Regierung die heftig kritisierte Disziplinarkammer abschaffen werde. Das tue sie aber nicht wegen der Anordnungen des Europäischen Gerichtshofes, sondern weil die Disziplinarkammer ihren Zweck nicht erfülle - also nur unzureichend schnell unliebsame Richter entferne und bestrafe.

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Michal Wawrykiewicz: Verein kritischer Anwälte hofft auf die Europäische UnionBild: Bernd Riegert/DW

Man müsse also befürchten, dass dies kein Einlenken, sondern nur Tarnung sei, meint Michal Wawrykiewicz. Er ist Anwalt und organisiert regelmäßig Proteste - auch vor dem Gebäude des Sejm, des polnischen Parlaments. Er glaubt, dass der Rechtsstaat in Polen noch zu retten sei. Letztlich würden Kaczyinski und die Partei PiS auf finanziellen Druck, etwa beim Wiederaufbauprogramm der EU nach der Corona-Rezession, reagieren.

"Wir werden sehen, dass all diese Urteile vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg irgendwann wirken werden. Polnische Richter bekommen neue Instrumente, um sich innerhalb des Systems zu wehren. Schritt für Schritt werden wir die Herrschaft des Rechts wiedererlangen. Ich glaube, im nächsten Jahr ist es so weit."

Richter Tuleya, der in seiner bis zur Decke mit Büchern gefüllten Wohnung auf die nächste Wendung in seinem Verfahren wartet, ist nicht so zuversichtlich, sondern eher frustriert. "Früher hat sich wirklich alles rund um das Gericht gedreht. Jetzt sieht mein Leben ganz anders aus. Die Zeit, die ich früher der Arbeit beim Gericht widmete, muss ich jetzt irgendwie füllen. Aber tatsächlich wurde dieses Leben auf den Kopf gestellt. Es ist ganz anders als in den letzten 25 Jahren."

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Richter Tuleya wurde über die Jahre zur Ikone der Opposition: Wandbilder mit seinem Gesicht wurden gemaltBild: Bernd Riegert/DW

Der unbeugsame Richter wurde für die Protestbewegung gegen die Abschaffung der rechtsstaatlichen Ordnung zur Symbolfigur. Sein Konterfei findet sich als buntes Graffiti auf Plakaten und Hauswänden in Warschau, auch in der Nähe seines alten Gerichts. Dort hat er immer noch ein Büro, das er nicht betreten darf.

Chef des Landesjustizrates sieht kein Problem

Der Streit um die Abschaffung der Disziplinarkammer für Richter ist nur einer von zahlreichen Konflikten. So hat die Regierung inzwischen die Richter am Verfassungstribunal und am Obersten Gericht mehr oder weniger unter ihre Kontrolle gebracht. Die Berufung der Richterinnen und Richter in ganz Polen erfolgt nicht mehr wie früher in einer Art Selbstverwaltung, sondern wird jetzt von der Parlamentsmehrheit, also der PiS, und vom Landesjustizrat entschieden.

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Pawel Styrna: Der Landesjustizrat ist unabhängigBild: Marina Strauß/DW

Dem Landesjustizrat hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg die erforderliche Unabhängigkeit abgesprochen. Auch hier sehen die EU-Richter den Rechtsstaat in ernster Gefahr. Der Chef des Landesjustizrates steht im DW-Interview treu zur PiS-Regierung. Pawel Styrna wirft dem EuGH vor, nur aufgrund von Meinungen, aber nicht von Fakten zu urteilen.

"Ich möchte kategorisch betonen, dass der Landesjustizrat unabhängig ist von jeglichen Einflüssen und jeglichen politischen Faktoren und auch von jeglichem Druck seitens der Gesetzgeber. Und wir sind eine Behörde, die unabhängig selbstständig alle Entscheidungen trifft. Und wir lassen uns keinem Druck aussetzen", sagte Richter Styrna. Und als Privatmann, nicht als Chef der mächtigen Justizbehörde, fügt er hinzu: "Ich kann nicht bestätigen, dass es in Polen einen Wunsch gibt, auf einen Konfrontationskurs mit der Europäischen Union zu gehen. Das ist mir nicht bekannt. Das sehe ich auch nicht."

Polen Warschau | Oberster Gerichtshof
Kritiker halten den Obersten Gerichtshof mit seiner Disziplinarkammer für politisch unterwandertBild: Imago Images/Eastnews/T. Jastrzebowski

Weiterer Streit vorprogrammiert

Sein geschasster Richter-Kollege Tuleya will weiter um seine Wiedereinsetzung als Richter kämpfen. Viel Hoffnung hat er aber nicht mehr, dass er unter einer PiS-Regierung noch einmal in die Robe schlüpfen darf, die ihm so viel bedeutet. "Aber am Ende setzt sich ja doch das Gute durch - meistens", sagt er und streicht in seiner Wohnung über den schwarzen Stoff seiner Richterrobe. Lächeln kann er dabei nicht. Sein Blick geht ins Leere.

Für den ehemaligen EU-Botschafter in Warschau, Marek Prawda, ist das Ziel der derzeitigen national-konservativen Regierung klar: "Eine direkte Herrschaft der Regierung über die Justiz wird angestrebt. Juristische Gremien werden politisch besetzt. Für Richter ist es gefährlich, sich kritisch zu äußern oder so zu urteilen, wie es dem Justizminister missfällt. Diese Entwicklung ist für die Demokratie in Polen gefährlich, auch für die Rechtsordnung."

Den ganz großen Angriff auf die europäische Rechtsordnung könnte das polnische Verfassungsgericht Ende August wagen. Dann steht eine Entscheidung zur Frage an, ob aus Sicht des höchsten polnischen Gerichts polnisches Recht Vorrang vor der europäischen Rechtsprechung haben muss. Sollte das so entschieden werden, wäre die Rechtsstaatlichkeit der gesamten EU und damit die Union selbst in Gefahr.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union